Nr. 1/2009, 47. Jahrgang express/AFP e.V....

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Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Deutsche Post AG Postvertriebstück D 6134 E Gebühr bezahlt Nr. 1/2009, 47. Jahrgang express/AFP e.V. www.labournet.de/express (069) 67 99 84 ISSN 0343-5121 Preis: 3,50 Euro GEWERKSCHAFTEN INLAND Werner Sauerborn: »Mobilisierungsaversion«, zur Diskussion um Nationalkeynesianismus und gewerkschaftliche Gegenstrategien in der Weltwirtschaftskrise S. 1 KOS: »Juristisch arm«, aber weder amtlich noch politisch S. 4 Geert Naber: »Keynesianismus?«, zur Debatte über Gewerkschaften in der Krise S. 5 »Welche Demo, wessen Krise?«, EGB, DGB, ver.di und IGM verzichten auf Kooperation mit Protestbewegungen; Aufrufe und Begründungen für Proteste und Demonstrationen im Frühjahr S. 6 »Cura posterior«, woher Rendite und Gewinne privater Krankenhauskonzerne kommen – ein Branchenzustandsbericht aus der Gesundheitswirtschaft S. 10 »Hilf Dir selbst!«, »Persönliche Assistenten« im Pflegebereich organisieren sich S. 13 KH: »K-Fragen gestellt«, Kongress der Interventionistischen Linken hat getagt S. 16 BETRIEBSSPIEGEL »Wegelagerer »auf der richtigen Spur«?«, auch Daimler-KollegInnen wollen nicht für Krise bezahlen S. 8 Johannes Reich & Ralf Kronig: »Zwischen Entgrenzung und Individualisierung«, über die Schwierigkeiten, in einem IT-Unternehmen eine Interessenvertretung zu bilden, Teil II S. 9 INTERNATIONALES Jane Slaughter: »Kein Beschäftigten- Bashing!«, über Chancen in der Krise der US-Autoindustrie S. 8 Sarah Bormann & Johanna Kusch: »Mit den Füßen...«, zu Arbeitsbedingungen in Chinas High-Tech Sweatshops S. 14 REZENSION NaRa: »Unpeeled – Radio vom Feinsten« S. 9 Peter Birke: »Gegen den Strich lesen«, über neue Literatur zu historischen Arbeitskämpfen, zu Michael Kittner: »Arbeitskampf. Geschichte – Recht – Gegenwart« S. 2 Bildnachweise: Aus Anlaß des 15. Jahrestages des zapatisti- schen Aufstandes im lakandonischen Urwald von Chiapas haben wir die aktuelle Ausgabe des express mit Photos der mexikanischen Photographin Tina Modotti bebildert: Reinhard Schultz (Hrsg.): »›Tina Modotti‹ Ihr fotografisches Werk. Ihr Leben. Ihr Film«, Frankfurt am Main 2005, mit DVD, ISBN 3-86150-631-9, Verlag 2001, Patricia Albers: »Schatten, Feuer, Schnee – Das Leben der Tina Modotti«, München 2000, ISBN 3-471-77039-9, Margaret Hooks: »Tina Modotti«, München 1997, ISBN 3-929078-42-2 Werner Sauerborn* ist Mitautor des Positionspapiers »Weiter so – oder Krise als Chance?« des Arbeitskreises Weltwirtschaftskrise von ver.di Baden-Württemberg, das wir im express Nr. 11/2008 dokumentiert hatten. Im Anschluss an die dort for- mulierte Kritik an den defensiven und »nationalkeynesianisch« inspi- rierten Reaktionen der Gewerkschaf- ten auf die Krise hat sich eine rege Debatte entwickelt: Neben der Replik von Ralf Krämer aus der Abteilung Wirtschaftspolitik des ver.di-Hauptvorstandes (s. express Nr. 12/2008) haben sich mit Richard Detje und Michael Wendl Kollegen aus der Redaktion des »Sozialismus« zu Wort gemeldet. Auf deren Beiträ- ge bezieht sich Werner Sauerborn im Folgenden. Ebenfalls in dieser Ausga- be veröffentlichen wir einen Artikel von Geert Naber, der unserer Einla- dung zur Debatte gefolgt ist und die beiden bislang im express erschiene- nen Beiträge von Ralf Krämer und des AK WWK würdigt und kritisiert. Um einen leichteren, zeitungsüber- greifenden Überblick der Debatte zu ermöglichen, ist eine Online-Publika- tion im Labournet Germany und auf der Homepage des »Sozialismus« geplant. Warum jetzt große Debatten um Strategiefra- gen führen? Sind doch alle einig im Gewerk- schaftslager, dass investitionsfördernde Kon- junkturprogramme sinnvoll sind. Auch dass eine Mobilisierung gegen die absehbaren Fol- gen der Krise notwendig ist, ist bei ver.di z.B. inzwischen zumindest Beschlusslage. Den- noch: es ist zweifelhaft, ob die Gewerkschaf- ten mit ihrer im Rheinischen Kapitalismus gründenden Aufstellung, Strategie und Ideo- logie der Wucht dessen, was auf die Lohnab- hängigen und auf sie selbst als Institutionen zukommen wird, etwas Wirksames entgegen setzen können. Die Texte von Richard Detje 1 , Ralf Krämer 2 und auch Michael Wendl 3 , auf die im Folgenden eingegangen wird, lassen diese Zweifel eher wachsen. Nationalkeynesianismus und/oder Mobilisierung? Zu einer unstrittigen Selbstverständlichkeit erklären Richard Detje und Ralf Krämer »die Grundthese, dass es um die Entfaltung von Druck gehen muss, um die gewerkschaftli- chen Anliegen durchzusetzen« (Krämer, S. 2). In dieselbe Richtung geht auch ein Grundsatzbeschluss des ver.di-Gewerk- schaftsrats zur Wirtschaftskrise, der sich letzt- lich auf langwieriges Drängen dezentraler Gliederungen der Organisation auf eine Per- spektive der Mobilisierung in der Auseinan- dersetzung mit der Krise festgelegt hat. 4 Allein dass es dazu überhaupt großen inner- gewerkschaftlichen Drängens bedurfte, dass fast drei Monate Krisenentwicklung ins Land gingen, bevor ein solches Bekenntnis erfolg- te, und dass die ver.di Bundesebene, von IGM- und DGB-Führung ganz zu schwei- gen, nun doch nicht zu den ersten großen Demos (in Deutschland am 28. März in Frankfurt a.M. und Berlin) aufruft, legt die Vermutung nahe, dass im vorherrschenden Politikkonzept der Gewerkschaften ange- sichts der Krise Mobilisierung und Druck- entfaltung eher etwas Äußerliches sind, der tonangebende Nationalkeynesianismus (NK) eher »mobilisierungsavers« ist, Mobilisierung also tendenziell eher als hemmend gilt. Die Denkfigur des NK, auch wenn dem viele Beteuerungen entgegenstehen, ist das letztlich gemeinsame Interesse in der Krisen- bewältigung, das es aufzudecken gelte: In seiner einzelwirtschaftlichen Gier verstoße das Kapital gegen das Allgemeinwohl und ruiniere damit seine eigenen Verwertungsbe- dingungen. Nun, da dies in der Krise schmerzhaft deutlich geworden sei, werde dieser neoliberale Irrtum sichtbar, und die Voraussetzungen stünden gut, sich im Sinne eines gemeinsamen Interesses auf politische Maßnahmen gegen die Krise zu verständi- gen. Jetzt müsse doch der Groschen fallen, so die verbreitete Hoffnung. 5 Vielleicht brauche es noch eine Informationskampagne oder mehr Kommunikation im Krisenmana- gement (ohne es gleich Konzertierte Aktion oder Bündnis für Arbeit zu nennen), aber nicht unbedingt eine gewerkschaftliche Mobilisierung. Damit fördert das keynesia- nische Theorem die Passivität der am Ende Betroffenen, die, statt in das Räderwerk des Krisenmanagements einzugreifen, vor den Bildschirmen sitzen, den großen Krisenma- nagern die Daumen drücken und hoffen, dass der Kelch an ihnen vorüber gehen möge. Die traditionelle Popularität des Keynesia- nismus in der organisierten Arbeiterbewe- gung hat ihren Grund in der Illusion, man könne systemkonform und im Allgemeinin- teresse offensive Forderungen nach Lohner- höhungen, Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich und sozialer Sicherung stel- len. Stattdessen lag aber das gerade Gegen- teil davon im wirklichen, nicht irrtümlichen Kapitalinteresse (vor allem im deutschen Akkumulationsmodell), nämlich Agendapo- litik, Sozialabbau und Tarifdumping, denn Fortsetzung auf Seite 2 unten Mobilisierungsaversion Zur Diskussion um Nationalkeynesianismus und gewerkschaftliche Gegenstrategien in der Weltwirtschaftskrise

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Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Deutsche Post A

GPostvertriebstückD

6134 EG

ebühr bezahlt

Nr. 1/2009, 47. Jahrgang ■ express/AFP e.V. ■ www.labournet.de/express ■ ☎ (069) 67 99 84 ■ ISSN 0343-5121■ Preis: 3,50 Euro

G E W E R K S C H A F T E N I N L A N D

Werner Sauerborn: »Mobilisierungsaversion«,zur Diskussion um Nationalkeynesianismusund gewerkschaftliche Gegenstrategien in der Weltwirtschaftskrise S. 1

KOS: »Juristisch arm«, aber weder amtlich noch politisch S. 4

Geert Naber: »Keynesianismus?«, zur Debatte über Gewerkschaften in der Krise S. 5

»Welche Demo, wessen Krise?«, EGB, DGB,ver.di und IGM verzichten auf Kooperation mit Protestbewegungen; Aufrufe und Begründungen für Proteste und Demonstrationen im Frühjahr S. 6

»Cura posterior«, woher Rendite und Gewinne privater Krankenhauskonzerne kommen – ein Branchenzustandsbericht aus der Gesundheitswirtschaft S. 10

»Hilf Dir selbst!«, »Persönliche Assistenten« im Pflegebereich organisieren sich S. 13

KH: »K-Fragen gestellt«, Kongress der Interventionistischen Linken hat getagt S. 16

B E T R I E B S S P I E G E L

»Wegelagerer »auf der richtigen Spur«?«, auch Daimler-KollegInnen wollen nicht für Krise bezahlen S. 8

Johannes Reich & Ralf Kronig: »Zwischen Entgrenzung und Individualisierung«, über die Schwierigkeiten, in einem IT-Unternehmen eine Interessenvertretung zu bilden, Teil II S. 9

I N T E R N A T I O N A L E S

Jane Slaughter: »Kein Beschäftigten-Bashing!«, über Chancen in der Krise der US-Autoindustrie S. 8

Sarah Bormann & Johanna Kusch: »Mit den Füßen...«, zu Arbeitsbedingungen in Chinas High-Tech Sweatshops S. 14

R E Z E N S I O N

NaRa: »Unpeeled – Radio vom Feinsten« S. 9

Peter Birke: »Gegen den Strich lesen«, über neue Literatur zu historischen Arbeitskämpfen, zu Michael Kittner: »Arbeitskampf. Geschichte – Recht – Gegenwart« S. 2

Bildnachweise:

Aus Anlaß des 15. Jahrestages des zapatisti-schen Aufstandes im lakandonischen Urwaldvon Chiapas haben wir die aktuelle Ausgabedes express mit Photos der mexikanischen Photographin Tina Modotti bebildert:

Reinhard Schultz (Hrsg.): »›Tina Modotti‹ Ihr fotografisches Werk. Ihr Leben. Ihr Film«,Frankfurt am Main 2005, mit DVD, ISBN 3-86150-631-9, Verlag 2001,

Patricia Albers: »Schatten, Feuer, Schnee – Das Leben der Tina Modotti«, München 2000, ISBN 3-471-77039-9,

Margaret Hooks: »Tina Modotti«, München1997, ISBN 3-929078-42-2

Werner Sauerborn* ist Mitautor desPositionspapiers »Weiter so – oderKrise als Chance?« des ArbeitskreisesWeltwirtschaftskrise von ver.diBaden-Württemberg, das wir imexpress Nr. 11/2008 dokumentierthatten. Im Anschluss an die dort for-mulierte Kritik an den defensivenund »nationalkeynesianisch« inspi-rierten Reaktionen der Gewerkschaf-ten auf die Krise hat sich eine regeDebatte entwickelt: Neben derReplik von Ralf Krämer aus derAbteilung Wirtschaftspolitik desver.di-Hauptvorstandes (s. expressNr. 12/2008) haben sich mit RichardDetje und Michael Wendl Kollegenaus der Redaktion des »Sozialismus«zu Wort gemeldet. Auf deren Beiträ-ge bezieht sich Werner Sauerborn imFolgenden. Ebenfalls in dieser Ausga-be veröffentlichen wir einen Artikelvon Geert Naber, der unserer Einla-dung zur Debatte gefolgt ist und diebeiden bislang im express erschiene-nen Beiträge von Ralf Krämer unddes AK WWK würdigt und kritisiert.Um einen leichteren, zeitungsüber-greifenden Überblick der Debatte zuermöglichen, ist eine Online-Publika-tion im Labournet Germany und aufder Homepage des »Sozialismus«geplant.

Warum jetzt große Debatten um Strategiefra-gen führen? Sind doch alle einig im Gewerk-schaftslager, dass investitionsfördernde Kon-junkturprogramme sinnvoll sind. Auch dasseine Mobilisierung gegen die absehbaren Fol-gen der Krise notwendig ist, ist bei ver.di z.B.inzwischen zumindest Beschlusslage. Den-noch: es ist zweifelhaft, ob die Gewerkschaf-ten mit ihrer im Rheinischen Kapitalismusgründenden Aufstellung, Strategie und Ideo-logie der Wucht dessen, was auf die Lohnab-hängigen und auf sie selbst als Institutionenzukommen wird, etwas Wirksames entgegensetzen können. Die Texte von RichardDetje1, Ralf Krämer2 und auch MichaelWendl3, auf die im Folgenden eingegangenwird, lassen diese Zweifel eher wachsen.

Nationalkeynesianismusund/oder Mobilisierung?

Zu einer unstrittigen Selbstverständlichkeiterklären Richard Detje und Ralf Krämer »dieGrundthese, dass es um die Entfaltung vonDruck gehen muss, um die gewerkschaftli-chen Anliegen durchzusetzen« (Krämer, S. 2). In dieselbe Richtung geht auch einGrundsatzbeschluss des ver.di-Gewerk-schaftsrats zur Wirtschaftskrise, der sich letzt-lich auf langwieriges Drängen dezentralerGliederungen der Organisation auf eine Per-

spektive der Mobilisierung in der Auseinan-dersetzung mit der Krise festgelegt hat.4

Allein dass es dazu überhaupt großen inner-gewerkschaftlichen Drängens bedurfte, dassfast drei Monate Krisenentwicklung ins Landgingen, bevor ein solches Bekenntnis erfolg-te, und dass die ver.di Bundesebene, vonIGM- und DGB-Führung ganz zu schwei-gen, nun doch nicht zu den ersten großenDemos (in Deutschland am 28. März inFrankfurt a.M. und Berlin) aufruft, legt dieVermutung nahe, dass im vorherrschendenPolitikkonzept der Gewerkschaften ange-sichts der Krise Mobilisierung und Druck-entfaltung eher etwas Äußerliches sind, dertonangebende Nationalkeynesianismus (NK)eher »mobilisierungsavers« ist, Mobilisierungalso tendenziell eher als hemmend gilt.

Die Denkfigur des NK, auch wenn demviele Beteuerungen entgegenstehen, ist dasletztlich gemeinsame Interesse in der Krisen-bewältigung, das es aufzudecken gelte: Inseiner einzelwirtschaftlichen Gier verstoßedas Kapital gegen das Allgemeinwohl undruiniere damit seine eigenen Verwertungsbe-dingungen. Nun, da dies in der Kriseschmerzhaft deutlich geworden sei, werdedieser neoliberale Irrtum sichtbar, und dieVoraussetzungen stünden gut, sich im Sinneeines gemeinsamen Interesses auf politische

Maßnahmen gegen die Krise zu verständi-gen. Jetzt müsse doch der Groschen fallen,so die verbreitete Hoffnung.5 Vielleichtbrauche es noch eine Informationskampagneoder mehr Kommunikation im Krisenmana-gement (ohne es gleich Konzertierte Aktionoder Bündnis für Arbeit zu nennen), abernicht unbedingt eine gewerkschaftlicheMobilisierung. Damit fördert das keynesia-nische Theorem die Passivität der am EndeBetroffenen, die, statt in das Räderwerk desKrisenmanagements einzugreifen, vor denBildschirmen sitzen, den großen Krisenma-nagern die Daumen drücken und hoffen,dass der Kelch an ihnen vorüber gehenmöge.

Die traditionelle Popularität des Keynesia-nismus in der organisierten Arbeiterbewe-gung hat ihren Grund in der Illusion, mankönne systemkonform und im Allgemeinin-teresse offensive Forderungen nach Lohner-höhungen, Arbeitszeitverkürzungen mitLohnausgleich und sozialer Sicherung stel-len. Stattdessen lag aber das gerade Gegen-teil davon im wirklichen, nicht irrtümlichenKapitalinteresse (vor allem im deutschenAkkumulationsmodell), nämlich Agendapo-litik, Sozialabbau und Tarifdumping, denn

Fortsetzung auf Seite 2 unten

MobilisierungsaversionZur Diskussion um Nationalkeynesianismus und gewerkschaftlicheGegenstrategien in der Weltwirtschaftskrise

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gerade das führte zu Weltmarktstärke undermöglichte diese riesige Umverteilung nachoben.6 Auch jetzt in der Krise gibt es diesesgemeinsame Interesse nicht und auch nichtwieder. Das Kapital distanziert sich nicht vonseiner neoliberalen Gestalt, es hat nur Korrek-turbedarf, was die Regulation der Finanz-märkte betrifft. Deren Fehlen hat sich alsselbstzerstörerisch erwiesen, und so wird sichmit wirksameren internationalen Regeln fürdie Finanzmärkte eine typische kapitalistischeStaatsfunktion auf globaler Ebene herausbil-den. Der leibhaftige Neoliberalismus, wie wirihn seit Jahren bekämpfen, mit seinen Privati-sierungen, Lohndumping, Rentenkürzungen,Prekarisierungen, Studiengebühren, Arm-Reich-Gegensätzen soll nicht revidiert wer-den, ist nicht einmal ernsthaft geschwächt,sondern droht das Muster auch für die Abwäl-zung der Krisenfolgen zu werden. Was könntedie ungebrochene Lebendigkeit des Neolibe-ralismus besser symbolisieren als die Teilnah-me von Leitfiguren des Neoliberalismus wieAckermann und Rürup an der große Krisen-runde bei der Kanzlerin Mitte Dezember(während Ralf Krämer noch meint: »dasBündnis für Arbeit ist Geschichte«; S. 3)?Und was fördert die Illusion in eine korpora-tistische Krisenlösung mehr als die Teilnahmeder Spitzen der deutschen Gewerkschaftsbe-

wegung an dieser Runde? Auf diese Weisewird der real existierende Neoliberalismusnicht ins Wanken zu bringen sein. Dazubraucht es ein Subjekt. Und das müsste sichauf den Straßen und in den Betrieben konsti-tuieren.

Neoliberalismus nur falsche Ideologie?

»Wenn mit der tiefen Krise der Finanzmärkteder Neoliberalismus tatsächlich am Ende ist,dann endet damit eine Herrschaft, gegen diedie Gewerkschaften in den zurückliegenden28 Jahren ... immer wieder gekämpft haben,... von ihnen wird enormer Druck genom-men, ihre Handlungsmöglichkeiten erweiternsich, wenn (der Neoliberalismus) zu einerNon-Agenda im gesellschaftlichen Diskurswird« (Detje, S. 37). Deshalb sei der »Kern-punkt für uns die ideologische Auseinander-setzung mit dem Neoliberalismus in Alltags-verstand, Medien und Politik« gewesen undsei es noch, so Ralf Krämer (S. 2), stellvertre-tend für den vorherrschenden politischenAnsatz der Gewerkschaften. Der Neoliberalis-mus soll in seiner Verlogenheit und in seinemInteressenbezug demaskiert werden, auch inden Köpfen der Lohnabhängigen. Dazu inWort und Text vieles beigetragen zu haben, istdas unstrittige Verdienst von Detje, Krämer,

Wendl und vieler anderer. Übersehen wirddabei jedoch, dass es sich wie bei jeder Ideolo-gie nicht um ein freischwebendes Gedanken-gebäude handelt, sondern um das getreulichetheoretische Abbild des neuen globalen Kapi-talismus, den es für die ProtagonistInnen desNationalkeynesianismus fast nicht zu gebenscheint (s.u.). Eine Ideologie bekämpfen zuwollen, ohne eine Antwort auf die ihr zugrun-de liegenden geänderten Realitäten, ihre neu-en Machtverhältnisse und Erpressungspoten-tiale und damit schließlich auch keine über-zeugende Erklärung für die Krise der Gewerk-schaften geben zu können, das ist die Sackgas-se des Nationalkeynesianismus.7

Zugespitzt: was nutzt einer Belegschaft,deren Standort verlagert werden soll, oder derdie Löhne mit Verweis auf die globale Wett-bewerbsfähigkeit gekürzt werden sollen, dieErkenntnis, dass Neoliberalismus die Ideolo-gie der Gegenseite ist und höhere Löhnevolkswirtschaftlich besser wären? Ihr wärebesser geholfen, wenn sie mit ihrer Gewerk-schaft der neuen Mächtigkeit des Kapitalsnicht nur ideologisch, sondern auch macht-politisch etwas entgegensetzen könnten.»Mobilisierungsavers« ist der Nationalkeyne-sianismus also auch, weil er die Ideologiefrageverabsolutiert, statt sich auch zu beziehen aufdie realen Machtverhältnisse und auf alles,was strukturell einer Mobilisierung entgegen-steht.

Streiken für ein Konjunktur-programm? Wer ist Subjekt?

Recht hat Ralf Krämer, wenn er es nicht fürrealistisch hält, dass mit der Forderung nacheinem »Konjunktur- und Zukunftsinvesti-tionsprogramm ... eine breite Streikbewegungzu entwickeln« (S. 2) ist.8 Richtig, das passtirgendwie nicht. Während Krämer dies alsBeleg für seine Skepsis gegenüber politischenStreiks dient, ist umgekehrt zu fragen, obnicht die Wiederaneignung des in den 50erJahren aufgegebenen politischen Streikrechts(das »Bad Godesberg der Gewerkschaften«,so Wendl, S. 4) für die anstehenden Ausein-andersetzungen unverzichtbar ist, die natio-nalkeynesianische Programmatik sich abernicht als mobilisierungsfähige Forderunganbietet. Zu fragen ist, ob hier nicht das Sub-jekt zum Objekt gerät, indem wirtschaftpoli-tische Forderungen, die gerade in ihrer natio-nalkeynesianischen Ausrichtung oft nichtüberzeugen können9, zur zentralen Agendader Mobilisierung gemacht werden sollen,statt das verallgemeinerte unmittelbareLebens- und Überlebensinteresse der Lohn-abhängigen, des gewerkschaftlichen Subjekts,ohne Rücksicht auf eine volkswirtschaftlicheBegründbarkeit zum Ausgangspunkt zumachen. Eine plausible gesamtwirtschaftlicheArgumentation kann eine »hilfreiche« Ergän-zung (Krämer, S. 2) sein, sollte sich aber

Die Geschichte der Arbeitskämpfewar in den letzten zwei Jahrzehntenweder in der linken Debatte noch inder Forschung ein großes Thema. Esist vielleicht kein Zufall, dass sichdies erst seit wenigen Jahren zuändern scheint. Das neue Interessehängt auch damit zusammen, dassArbeitskämpfe in der bundesdeut-schen Öffentlichkeit spätestens seitdem Opel-Streik von 2004 wiederstärker beachtet werden. Wieder ein-mal bestätigt sich, dass die grundle-genden Konflikte zwischen den Klas-sen auch in unserer vorgeblich »post-materiellen« und »wissensbasierten«Gesellschaft nicht verschwundensind. Ähnlich wie in den frühen1970er Jahren das Interesse an denStreiks nicht in erster Linie deshalbentstand, weil ein paar kluge Köpfedas Thema entdeckt haben, sondernweil die auch unabhängig vonGewerkschaft und Tarifpolitik statt-findenden Arbeitskämpfe es auf dieTagesordnung setzten. Auch heuteaktualisieren die öffentlich beachte-ten Arbeitskämpfe das Interesse anihrer Geschichte. In den folgendenAusgaben des express sollen neueTexte über historische Arbeitskämpfevorgestellt werden. Wir beginnen imJahr 2005 mit Michael Kittners Buch»Arbeitskampf«.

Den größten Wurf hat in diesem Zusam-menhang der vielen GewerkschafterInnen alsAutor »des Kittners«, einem unentbehrlichenJahrbuch zur Entwicklung des Arbeitsrechts,bekannte ehemalige Justiziar der IG Metallgewagt. Michael Kittner hat in seinem bereits2005 erschienenen Buch in erster Linie dieEntwicklung der Koalitionen und des Koali-tionsrechts (vorwiegend) in Deutschlandvom 14. Jahrhundert bis heute beschrieben,wobei der Titel des Buches (»Arbeitskämpfe«)

Umfeld verortet, das die gesamte Lebens-welt der »abhängig Beschäftigten« umfasste.Organisierung ist, zumindest in diesem Sta-dium, ein Vorgang, der nicht auf die Arbeitreduziert werden kann, sondern den Wider-stand gegen die ökonomische Ausbeutungdurch die Meister ebenso beinhaltet wie dieGeselligkeit und das Feiern. Ausführlichschildert Kittner die religiöse Fundierungder Gesellenvereinigungen, ihre Bemühun-gen um ein würdevolles Altern und dieGrundlagen dessen, was im Grunde alsfrühe Form der Hilfskassen bezeichnet wer-den kann. Widerstand, so entnimmt mandieser Schilderung, entstehe aus dieser Viel-fältigkeit der Probleme heraus. In Bezug aufdie Arbeitsbeziehungen sei der »Trias ausWandern, Schenken und Zuschicken«besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Es ist sicherlich gewagt, wenn diese »Trias«von Kittner in »Organisationsvoraussetzun-gen« im modernen Sinne übersetzt wird.Aber es ist gleichzeitig ein richtiger Gedanke,dass die Entstehung des modernen Klassen-konflikts sicherlich nicht so sehr, wie in derhistorischen Zunft oft behauptet, nur auf derGrundlage von »freien Arbeitsmärkten« zudenken ist, zumal zu überprüfen wäre, inwelchem Verhältnis diese Freiheit jeweils zu

der später auch durchdie Gewerkschaftenregulierten »Grenzzie-hung« (Beverly Silver)auf dem Arbeitsmarktstand. Wandern(Migration), Schenken(gegenseitige solidari-sche Unterstützung)und Zuschicken (dieKontrolle des Arbeits-

marktes) sind beachtenswert, denn hinterdiesen drei Wörtern verbergen sich Formendes Kampfes: die Flucht aus der Arbeit, diekollektive Organisierung und der Boykottvon »schlechten« Arbeitgebern. Dass dieArbeitskampfgeschichte insofern breitergefasst werden muss und nicht ausschließlichritualisierte Kampfformen von repräsentati-ven Organisationen gesehen werden sollten,ist eine wichtige Einsicht.

Arbeitskampf undArbeitsrecht

Allerdings geht diese Einsicht dem Autor, jeweiter er in der Geschichte voranschreitet,mehr und mehr verloren. Die Arbeitskampf-geschichte wird, beginnend mit dem Preußi-schen Allgemeinen Landrecht von 1794 undden Stein-Hardenbergschen Reformen, überdie Gewerbeordnung Preußens und desNorddeutschen Bundes bis zur Repressiongegen die aufkommenden Gewerkschaftendes Kaiserreichs immer mehr zur Arbeits-rechtsgeschichte. Die Brüche, die die Revolu-tionen von 1848 und 1919 bedeuteten, wer-den hinsichtlich ihrer Folgen nicht als offeneFragen nach einer völlig anderen gesellschaft-lichen Ordnung, sondern vor allem hinsicht-lich ihrer Bedeutung für die Etablierung desvernünftigen Zustands betrachtet, der malmehr, mal weniger deutlich in der Anerken-nung der Gewerkschaften als Sozialpartnergesehen wird. Die Geschichte bewegt sichhier sozusagen immer »auf dem Weg zurKoalitionsfreiheit«. Kein Wunder, dass sichangesichts der jüngsten Angriffe auf dieselbeam Ende eine gewisse Verbitterung in denText einschleicht: »Kein Rückhalt für dieGewerkschaften im Reich der Ideen« heißt esdort blumig. Es fehlt der Hinweis darauf,dass der historische Anfang der sozialenKämpfe, wie Kittner anhand der Gesellenbe-wegung überzeugend darstellt, den aktuellenKonflikten merkwürdig zu ähneln beginnt.Die wenigen Jahrzehnte der staatlichenRegulation und der Beteiligung der Gewerk-schaften daran erscheinen heute als Ausnah-me, deren Regel der Kampf um jeden Cent,jede arbeitsfreie Minute und jeden noch sogeringen demokratischen Freiraum bleibt.Spätestens an dieser Stelle wird man unge-duldig und möchte dem Autor zurufen, dassman »auf Ideen« eben, wie doch schon derAlte wusste, »kein Reich aufbaut« und vorallem: dass die Gewalt gegenüber den Arbei-tenden (und vor allem denjenigen, die in derArbeitsmarkthierarchie nicht oben angesie-delt sind) nur latent geworden und auch inden »goldenen Zeiten« nie verschwundenwar.

Sehr problematisch werden die SetzungenKittners spätestens ganz am Ende desBuches, in dem er auf fünfzig Seiten fastdurchgehend die Vorurteile wiederholt, diees über die Arbeitskämpfe in der Bundesre-publik gibt. Hier werden Streiks, die »nichtals Modellarbeitskämpfe gelten können«,schlicht für »als zu vernachlässigen« erklärt.Die Neuzusammensetzung der Arbeitskämp-

Fortsetzung von Seite 1

etwas irreführend ist, da der Anteil der Quel-len über Streiks im engeren wie im weiterenSinne (das heißt inklusive der Boykotte,Sabotagen, der Flucht aus der Arbeit usw.)nur einen Bruchteil des fast 800 Seiten star-ken Buches füllt. Die Streiks erscheinen indem reichlich voreilig als Standardwerk apo-strophierten Buch vor allem gegen Ende desTextes mehr und mehr als bloße Füllsel, dieeigentlich gar keine eigene Geschichte besit-zen, sondern im Grund nur das Benzinwaren, das den Antrieb für die insgesamteher als selbstverständlich angenommenendenn analytisch hergeleiteten vorgeblichgroßen Fortschritte lieferte, die das Koali-tionsrecht, das Tarifvertragswesen und diegewerkschaftliche Organisierung insbesonde-re in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertsgemacht habe.

Wandern, Schenken,Zuschicken

Trotzdem ist dieses Buch aus verschiedenenGründen verdienstvoll. Es ist überwiegendgut geschrieben – hier merkt man demAutor seine Erfahrungen jenseits der akade-mischen Welt an –, wenngleich die konkre-ten Darstellungen der 61 Streiks aufgrundder Schriftgröße unddes mangelndenDurchschusses fürLeute in höheremAlter und mitschwindender Seh-kraft noch nicht malmit der Lupe entzif-ferbar sein dürften(ob es eine Auflagedes Verlages war, diesso zu gestalten, oder schon eine inhaltlicheAussage über das Verhältnis zwischenKämpfen und ihrer institutionellen Vermitt-lung sei dahin gestellt). Inhaltlich interes-sant ist besonders der Anfang des Buches, indem Kittner davon ausgeht, dass das, was ermit einem etwas ahistorischen Begriff als»Gesellenbewegung« bezeichnet, eine »Kon-tinuität von über 400 Jahren aufwies«. Die-se Kontinuität sieht er zudem in einem

Gegen den Strich lesenPeter Birke über neue Literatur zu historischen Arbeitskämpfen

Michael Kittner:»Arbeitskampf. Geschichte –

Recht – Gegenwart«,C.H. Beck Verlag,

München 2005. 784 S., geb.,ISBN 3-406-535-80-1,39,90 Euro

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nicht an die Stelle des ursprünglichen Anlie-gens setzen. Wenn Michael Wendl schreibt,die tarifpolitische Funktion einer Gewerk-schaft bestehe »gerade nicht in der Propagie-rung eines bestimmten Typs von Wirtschafts-politik – das hat höchstens flankierendeFunktion, sondern in der Durchsetzung vonTarifverträgen« (S. 3), dann stellt eine so for-mulierte Selbstbescheidung den Zusammen-hang angemessen dar. Typischer, wenn auchselten so klar, ist für die gewerkschaftlich ver-breitete Denkungsart die folgende Argumen-tation, mit der eine Tarifforderung völlig aufden Kopf gestellt wird: »Wenn wir angesichtswachsender wirtschaftlicher Unsicherheiteine deutliche Verbesserung unserer Einkom-men fordern, dann handeln wir nicht ausegoistischen Gründen, sondern stellen unsder gesamtgesellschaftlichen Verantwor-tung.«10 Das unmittelbare Interesse scheintillegitim, ja unsozial, seine Rechtfertigungerhält die Forderung erst durch den Verweisauf eine vermeintliche gesamtgesellschaftlicheSinnhaftigkeit, die sich wiederum aus ihrerbinnenmarktstärkenden Wirkung ergebe (wasan sich schon eine brutale Verkürzung dar-stellt). Beschäftigten, die kämpfen wollen,sollen, müssten, Forderungen aufs Panier zuschreiben, die im günstigen Fall mittelbar inihrem Interesse liegen, ist mobilisierungs-avers!

Mit Gewerkschaftsstrukturenvon gestern gegen den globalen Kapitalismus?

Ein entscheidender Dissens liegt in der Frage,ob das Festhalten am Gewerkschaftsmodelldes Rheinischen Kapitalismus unter denBedingungen eines radikal veränderten Ka-pitalismus ein Grund der Schwäche der Ge-werkschaften und im Sinne transnationalerGewerkschaftsstrukturen und -strategien wei-ter zu entwickeln wäre, oder ob die bestehen-den Gewerkschaftsstrukturen und -strategiennichts mit ihrer Defensive zu tun haben unddaher weiterhin Grundlage der Auseinander-setzungen gegen die Krisenfolgen sein sollen,wie Richard Detje, Ralf Krämer und MichaelWendl dies im Kern vertreten. In diesenGegensatz wollen sie sich jedoch nicht hinein-ziehen lassen. Selbstverständlich sei eine »key-nesianisch orientierte Wirtschaftspolitik inganz Europa anzustreben (Krämer, S. 2), undnach Detje ist »die Forderung nach einer stär-keren Europäisierung ... und Transnationali-sierung gewerkschaftlicher Politik unstrittig«(S. 42).11 Richtig ist dies insoweit, als dieGewerkschaften sich in letzter Zeit stärker miteuropäischer Politik12 beschäftigen, seltenerauch mit darüber hinausgehender internatio-naler Politik. Dabei geht es meist um allge-meine Forderungen und Visionen zu Europa,wie sie auch Detje formuliert (Europäisches

Sozialmodell, mixed economy; vgl. S. 42),manchmal auch um konkrete Forderungenund Mobilisierungen wie anlässlich der PortPackage-, der Bolkestein- oder der drohendenArbeitszeitrichtlinie, zu der die Gewerkschaf-ten im Dezember 2008 allerdings nicht ernst-haft mobilisiert haben. Wie ein ehernesGesetz scheint jedoch zu gelten, dass in diesenDiskussionen die Frage, was Europa oder derglobalisierte Kapitalismus mit den Gewerk-schaften selbst zu tun hat, ausgespart beleibt:Das Gewerkschaftsmodell des RheinischenKapitalismus scheint überhistorische Geltungzu haben, da können sich die ökonomischenStrukturen ändern, wie sie wollen, nationaleGewerkschaftsstrukturen bleiben! Und wenn,wie zu befürchten, die Weltwirtschaftskrisedie Gewerkschaften weltweit in neue Organi-sationskrisen stürzen wird, dann wird, wennsich nichts ändert, wohl wieder mit nationa-len Fusionen reagiert, bis sich in Deutschlandnoch drei Multibranchengewerkschaftenunter dem Dach eines vollends zur Bedeu-tungslosigkeit geschrumpften DeutschenGewerkschaftsbundes wiederfinden!?Eigentümlich konservativ und unbeweglicherklären Gewerkschaftslinke das gegebeneGewerkschaftsmodell de facto für ahistorischund sakrosankt. So endet Ralf Krämers Bei-trag mit einem klaren Bekenntnis zum »Wei-ter so«: »Ausgangspunkt und zentral bleibtdabei der Kampf auf dem Terrain und für

eine andere, heute machbare Politik der ein-zelnen Nationalstaaten«.

Bei einer solche Sichtweise kann nur ver-harren, wer die Veränderungen des Bezugs-felds, innerhalb dessen sich Gewerkschaftenbehaupten müssen, ignoriert, gering- oderfehleinschätzt. Dies macht sich an folgendenArgumentationen fest:

1.Es gebe sie doch weiterhin die nationa-len Institutionen, die nationalen Regie-

rungen, die Arbeitgeberverbände mit ihrerneoliberalen Politik. Und sie hätten weiterhinEntscheidungskompetenz in den allermeistenpolitischen und tariflichen Fragen. Und weilsie real seien, müssten sie auch Adressat derGewerkschaftsbewegung, und diese imWesentlichen national aufgestellt bleiben.

Die fundamentale Machtverschiebung imKlassenverhältnis infolge der Globalisierungdes Kapitalismus bedeutet jedoch weder, dasses diese dezentrale Staatlichkeit und nationa-len Institutionen nicht mehr gäbe, noch dasssie nicht mehr die formal Entscheidendenwären. Der globale Kapitalismus entfaltet sei-ne Macht anders. Er ist (noch) keine örtlich,institutionell oder personal fixierbares Macht-zentrum, sondern er ist ein globales Konkur-renzverhältnis, ein System entgrenzten Wett-bewerbs um die besten Angebotsbedingungen

fe, die nach 1945 zuerst durch die Verschie-bung von der Montan- in die Metallindu-strie und zuletzt in den Dienstleistungssek-tor geprägt war und die damit zusammen-hängende Problematik der sozialen Neuzu-sammensetzung der Arbeitenden, für diemigrantisch geprägte Streiks (um nur einBeispiel zu nennen) entscheidende Symbolewaren, spielt für die Analyse keine Rolle,obwohl sie Hinweise darauf geben könnte,dass die Streiks der Jetztzeit zeigen, dass dasEnde der Geschichte auch in dieser Hinsichtnicht eingetreten ist. Streikbewegungen, dienicht in den »vollkommenen« institutionel-len Rahmen passen, firmieren in KittnersBuch als »verbotene Streiks« auf ganzen vierSeiten. Unter diesem Stichwort werden denn

auch sowohl die »politischen Streiks« alsauch die Septemberstreiks von 1969 als auchdie Betriebsbesetzungen der 1970er und1980er Jahre behandelt. Fälschlicherweisebehauptet der Autor, dass seit dem Zeitungs-streik von 1952 »neben einigen Kleinstaktio-nen« bis zu den Protesten gegen die Ände-rung des §116 AFG im Jahre 1986 keinerleipolitische Streiks stattgefunden haben,wobei er nicht nur die durchaus im engerenSinne politischen Kämpfe gegen die Abwick-lung des Bergbaus, sondern neben einigenanderen auch die Streiks gegen die Atomrüs-tung der Bundeswehr (1958) sowie die Ver-abschiedung der Notstandsgesetze (1968)unterschlägt, die im Kontext der bundes-deutschen Gesellschaftsgeschichte ja keines-

wegs unsichtbar waren. Dass, wie Kittnerfeststellt, die »Zahl der Artikel« über denpolitischen Charakter und die Bedeutungder Septemberstreiks »Legion« ist, hätteAnlass zu einer Neulektüre der in den1970er Jahren zu diesem Thema entstande-nen Texte geben können. Das Ressentiment,welches sich in der Interpretation der Streik-welle als »trivial« und »reine Lohnpolitik«ausdrückt, hätte auf diese Weise wenigstensein wenig bearbeitet werden können. DieFeststellung, dass »die Arbeiter tatsächlichnur mehr Geld wollten, und wenn sie esbekamen, waren sie zufrieden«, die die Dar-stellung der Septemberstreiks abschließt,ignoriert völlig die Bedeutung der Kämpfeder langen 1970er Jahre, die dementspre-chend lediglich in ein paar Zeilen abgehan-delt werden. Der berühmte Streik bei Fordin Köln aus dem Jahre 1973, sein Kontextsowie seine Implikationen (nicht zuletzt fürdie Tarifpolitik der IG Metall) werden ineinem 800-seitigen Buch über »die Arbeits-kämpfe« in Deutschland so behandelt, alshätte er niemals stattgefunden.

Walther Müller-Jentsch ist einer der wenigenRezensenten, die Kittners Buch (in derFrankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19.Oktober 2005) zwar zurecht als »reicheFundgrube für Sozial- und Rechtswissen-schaftler« gelobt, es aber zugleich auch wegenseiner letztlich nur normativen Setzungenkritisiert haben. Obwohl es im Feuilletoneiner bürgerlichen Tageszeitung eine merk-würdige Note bekommt, ist Müller-JentschsKritik an der Tonlage, die er mit »Rechtfer-tigungsduktus der Gewerkschaften« um-schreibt, nicht falsch. Ob Kittner denGewerkschaften mit diesem Duktus in einerSituation, in der es wohl am wenigsten aufRechtfertigungen ankommt, wirklich einenDienst erweist, sei dahingestellt. Dass er fastkomplett auf Nachweise für irgendwelcheBehauptungen und Zitate verzichtet, istdabei nicht einmal das Schlimmste. Bedauer-licher ist, dass der Autor eine Geschichte derArbeitskämpfe zeichnet, die zumindest fürdie jüngste Zeit entscheidende Aspekte aus-blendet. Am Ende sind die weißen Flecken,die es in unserer eigenen Geschichte gibt,durch diese Fleißarbeit nur noch größergeworden. Dennoch bleibt es ein Buch, daslesenswert ist: Manmuss es nur, wie eineRedakteurin desexpress formulierte,»gegen den Strichlesen«.

K-Fragen allenthalben:

Kooperation oder Konfrontation?Koordinierte Wirtschaftspolitik oderKommunismus? Krieg oder Koexis-tenz? – Dazwischen bewegen sich imMoment die Debatten der Linkenzwischen Gewerkschaften und Auto-nomen über die Krise. Die Interven-tionistische Linke hat bei einem Tref-fen die K-Frage explizit gestellt,dazu ein Kurzbericht von Kirsten(H.). »Krankenhäuser kapitalisierenoder kommunalisieren« ist die Fra-ge, die sich nach dem Lesen desBranchenberichts Gesundheitswirt-schaft stellt, den wir dokumentieren.(National-)Keynesianismus oder Kri-tik desselben fragen wir zusammenmit Werner Sauerborn und GeertNaber in Fortsetzung der Kontrover-se über das Papier des AK Weltwirt-schaftskrise. Kurzarbeit oder Kündi-gung, so stellt sich vor Ort in denBetrieben zum Teil die K-Frage –etwas vorschnell, wie die KollegIn-nen dort meinen. Denn die Krisekönnte auch Anlass für andere Fra-gen sein. Solche zum Beispiel nachEmanzipation und Produktion, diewir bei der express-Veranstaltungam 31. Januar in Frankfurt gestellthaben. Kommentare dazu, ebensowie Konklusionen zu der express-Tagung über Organisationsentwick-lung am 17. Januar in Berlin, könnenwir leider erst in der nächsten Aus-gabe präsentieren, dazu war dieZeit zu knapp. Doch das ist auch wie-der so ein Fetisch, den wir in dernächsten Ausgabe wenn nichtknacken, so doch im Sinne einer not-wendigen Kürzung der Arbeitszeitklärend katalysieren werden. In derHoffnung, dass diese Ausgabe trotzall der K-Fragen mehr als ein kurio-ser Kummerkasten geworden ist,wünschen wir allen Kolleginnen undKollegen kurzweilige Lektüre.

Ein Wort noch zu den Kosten: einenganz herzlichen Dank an Euch undall diejenigen, die uns bis heutegespendet haben und damit zur kon-tinuierlichen Überwindung kapita-listischer Konkurrenz im und mit demexpress beigetragen haben.

Fortsetzung auf Seite 4 oben

4express 1/2009

Das Bundessozialgericht (BSG)hat am 27. Januar festgestellt,dass die Hartz IV-Sätze fürKinder verfassungswidrig sei-en, weil sie das soziokulturel-le Existenzminimum nichtsicherten. Das BSG beruft sichdabei auf das grundgesetzlichverankerte Sozialstaatsgebotin Verbindung mit der Würdedes Menschen und dem Schutzder Familie. Die Hartz-Gesetzedeckeln den Bedarf von Kin-

dern (bis 13 Jahre) bzw.Jugendlichen (ab 14 Jahre)bislang völlig willkürlich, un-abhängig von den bekanntenBemessungsverfahren zumExistenzminimum oder garspezifischen Bedarfen, auf 60bzw. 80 Prozent des Regelsat-zes für Erwachsene (zur Zeit351 Euro). Kinder erhaltendemnach bislang 211, Jugend-liche 281 Euro. Da das BSG inFragen der Verfassungsmä-

ßigkeit politischer Vorgabennicht das letzte Wort hat, mussdas Bundesverfassungsge-richt jetzt über die Angemes-senheit der prozentualenRegelsätze für Kinder, aberauch über die grundsätzlicheFrage der Bedarfsbemessungfür Erwachsene entscheiden.Ein weiteres Exempel für dieVerlagerung politischer Wil-lensbildung von der Legisla-tive auf die Judikative? DieExekutive hingegen scheintsich in ihrer Vollzugspraxisauch um bereits vorliegendehöchstrichterliche Urteile we-nig zu kümmern, wie das BSGkritisch anmerkte. Was also

müsste noch passieren, umdiese menschenunwürdigenZustände zu ändern? Wir do-kumentieren aus einer Stel-lungnahme der Koordinie-rungsstelle gewerkschaftlicherArbeitslosengruppen (KOS):

»Die Koalition soll die Hartz IV-Sätze für Kinder sofort erhöhen undarme Familien nicht auf eine Ent-scheidung des Bundesverfassungs-gerichts vertrösten.« Dies fordertdie Koordinierungsstelle gewerk-schaftlicher Arbeitslosengruppen,nachdem das Bundessozialgericht(BSG) die Hartz IV-Sätze für Kin-

der unter 14 Jahren für verfassungs-widrig erklärt hatte.

»Das Urteil ist eine Klatsche fürdie Koalition, die lange versuchthat, den Skandal der Kinderarmutauszusitzen und auch zuletzt nurhalbherzige und unzureichendeMaßnahmen ergriff«, so MartinKünkler von der KOS. Jetzt sei dieKoalition gefordert, zügig zu han-deln, um die Situation von Kindernim Hartz IV-Bezug deutlich zu ver-bessern. »Die Armut der Familiendarf sich nicht fortsetzen, bis Karls-ruhe in Monaten oder gar Jahrenentscheidet«, so Künkler weiter. DasBSG hatte die Frage dem Bundes-verfassungsgericht zur endgültigenEntscheidung vorgelegt. Dort sind

bei Lohnkosten, Sozialstaatskosten, Steuerbe-dingungen, um möglichst weitgehende Aus-beutungsfreiheit bei Lohnabhängigen undUmwelt.

Dieser globale Konkurrenzmechanismusentfaltet seine Macht über Bestrafungs- undErpressungspotentiale all denen gegenüber,die sich diesen Konkurrenz- und Dumping-mechanismen widersetzen, also z.B. Gewerk-schaften gegenüber, die Lohnforderungenstellen oder auf politischer Ebene um Min-destlohn, Rente mit 65 oder um sozialeDaseinsvorsorge kämpfen. Die Erscheinungs-ebene der Macht, ihre Institutionen, Befug-nisse und Entscheidungsvolumina mögenfast gleich geblieben sein, das Wesen derMacht ist aber ein anderes. Sie folgt einerglobalen Logik, die sich natürlich weiterhinvor Ort konkretisiert und gegen die natürlichweiterhin vor Ort gekämpft werden muss.13

In diesem neuen Kapitalismus sitzen dieGewerkschaften, eben weil sie sich nicht adä-quat weiterentwickelt haben und sich weiter an vergangenen Klassenstrukturen orientieren, inzwischen strukturell am kürzeren Hebel desMachtwirkungsmechanismus. Komplementärgilt: Die Macht des Kapitals auf der globalenEbene ist die Schwäche der Gewerkschaftenebendort. Erst ihr historisches Versäumnis, indieser neuen kapitalistischen Arena Organi-sierung, Institutionen und Gegenmacht zuentwickeln, hat dem Kapital dieses neueReich der Freiheit mit allen Chancen undRisiken des schrankenlosen Waltens beschert.Und wo es keine Gegenmacht gibt, gibt es fürdas Kapital auch keine Veranlassung, Struktu-ren und Institutionen der (Sozial-)Staatlich-keit zu entwickeln, mit denen gewerkschaftli-cher Druck aufgefangen oder irgendwie inte-griert werden könnte. Arbeitgeberverbändeauf globaler Ebene z.B. werden erst entstehen,wenn die Gewerkschaften auf dieser Ebeneauf den Plan treten. Das zeigen geradezulehrbuchmäßig die internationalen Reeder-verbände, die sich erst in Arbeitgeberfunktionetablierten, als die ITF-Section Maritim alsde facto globale Gewerkschaft der Seeleutehandlungsfähig wurde. Statt sich mit denGründen dieses historischen Versäumnissesder Gewerkschaften zu befassen, dient dieNichtexistenz oder Bedeutungslosigkeit poli-tischer Adressaten auf globaler Ebene demNationalkeynesianismus als Argument für dieAussichtslosigkeit gewerkschaftlicher Ausrich-tung auf die transnationalen Ebenen: »Aufder europäischen und erst recht der globalenEbene sind die Völker (?) von demokrati-schem Einfluss weitgehend ausgeschlossen«(Krämer, S. 2). Der Grund hierfür wird nichtin den ökonomischen Machtverhältnissen,sondern in der neoliberale Ideologie, woimmer sie herkommen möge, verortet. Dielange neoliberale Vorherrschaft habe »sich tiefin den Strukturen und Rechtsgrundlagen undder Zusammensetzung von Organen einge-schrieben«, die zentralen Akteure, auf die Ein-fluss genommen werden müsse, seien daherdie nationalen Regierungen (ebd.), derenGegenpart eben nationale Gewerkschaftensein müssten.

2.Wenn es denn negative Einwirkungenvon globaler oder europäischer Ebene

auf die Klassen- und Verteilungsverhältnissevor Ort gebe, was immer weniger bestreitbarist und bestritten wird, dann sei dies nur dieSumme der jeweiligen nationalen Einflus-snahmen auf die transnationale Handlungse-bene und rechtfertige keine gewerkschaftlicheNeuorientierung, sondern mache eine Ver-stärkung des Kampfes auf der jeweiligennationalen Ebene erforderlich, von der dieserEinfluss ausgehe. »Die Durchsetzung eineranderen Politik in Europa geht nur auf demWege der Durchsetzung einer anderen politi-schen Orientierung in Deutschland undmöglichst vielen anderen Nationalstaaten inEuropa« (Krämer, S. 3). Die nationalenRegierungen agieren auf transnationalemParkett nicht anders als auf nationalem: Sieversuchen die nationalen Wettbewerbsbedin-gungen in der globalen Standort- und Ange-botskonkurrenz zu optimieren. Der Appell,sich dem von jeweils nationaler Ebene zuwidersetzen, bleibt der beste Weg, solange eskeine grenzüberschreitenden Gewerkschafts-strukturen und Kämpfe gibt. Er ist jedoch sogut und gleichzeitig hilflos wie der Rat anjeden Einzelnen einer Belegschaft, beim Chefeine Lohnerhöhung zu fordern. OhneAbstimmung, Koordination, gemeinsamesHandeln droht jeder sich eine Abfuhr zuholen, und diejenigen, die am kämpferisch-sten auftreten, gewärtigen womöglich diegrößten Nachteile. Diese vielen einzelnenNiederlagen waren geschichtlich die Lehren,aus denen heraus sich Solidargemeinschaftenund Gewerkschaften gebildet haben. Unddieser Lernprozess steht nun für die Gewerk-schaften unter den Bedingungen des globalenKapitalismus wieder an.

3.Das Plädoyer für den nationalenAnsatzpunkt scheint dadurch noch

eine weitere Plausibilität zu erfahren, dassDeutschland »nicht irgendein kleines Landunter vielen« ist, sondern ein Land, »in demdie Umverteilung zugunsten des Kapitals inden letzten Jahren am massivsten durchge-setzt wurde« und zwar zulasten »der Vertei-lungsposition der Lohnabhängigen in denanderen europäischen Ländern«. (Krämer, S.2). Dies beschreibt sehr zutreffend dieMechanismen des globalen Standortwettbe-werbs, Deutschlands Rolle darin und dieNotwendigkeit, gerade hier den Widerstandzu entwickeln. Aber in dem Maße, in demdies besonders notwendig ist, ist es auchbesonders schwer. Wenn den Gewerkschaftendie Handlungsoption auf globaler Ebenefehlt, von der aus sich die Machtverhältnissedefinieren, werden sie mehr oder wenigerzwangsläufig auf die Rolle des Mitspielersinnerhalb dieser Standortkonkurrenz verwie-sen sein. Fehlt ihnen die adäquate Wider-standsebene, werden sie schwer daran zu hin-dern sein, die second-best-Variante zu verfol-gen, und die heißt, auf die Behauptung dereigenen Arbeitgeber im globalen Wettbewerbund die damit verbundene Tantieme in Formvon Arbeitsplatzabsicherung und relativenLohnerfolgen zu setzen, die dann zumindestfür die Stammbelegschaften dabei abfallen

können. Die Chance, dass dieses traurigeund unsolidarische Kalkül, der beste Verliererunter den global Erpressten zu sein, aufgehenkönnte, stehen nicht schlecht. Die auffälligeZurückhaltung, die die IGM-Führung beider Vorbereitung sowie der nationalen undinternationalen Koordination des Wider-stands gegen die Krisenfolgen übt, könnteein Indiz für dieses Kalkül sein.

Wie Gegenmachtstrategieentwickeln, ohne eigene Ohn-macht erklären zu können?

Für die Lohnabhängigen, vor allem außer-halb der Kernbelegschaften, und auch für dieGewerkschaften als Organisationen stehtangesichts der dramatischen Krisenentwick-lung einiges auf dem Spiel. Eine Gegenstrate-gie ist nicht erkennbar. So unstrittig zumin-dest rhetorisch ist, dass es dabei im Kern umdie Entfaltung von Druck gehen muss, sounklar ist im gewerkschaftlichen Main-stream, woher dieser kommen soll. Schließ-lich bemühen sich die Gewerkschaften mitihrem bisherigen Instrumentenkasten seitJahren darum, ohne mehr erreicht zu haben,als noch größere Niederlagen verhindert zuhaben, die ohne ihr Tun eingetreten wären.Die Resultate der Gewerkschaftspolitik derletzten zehn oder auch zwanzig Jahre sindwahrlich keine Begründung für ein allenfallsum ein paar Modifikationen angereichertes»Weiter so«. Im Gegenteil, diese Resultatewerfen Fragen auf, deren Beantwortung Vor-aussetzung jeder erfolgreichen Gegenstrategieist: Wie ist es möglich, dass die Gewerkschaf-ten in Zeiten der Hochkonjunktur und spru-delnder Profite keine realen Einkommensver-besserungen durchsetzen können, dass sie diemühsam erkämpfte 35-Stunden-Woche fastflächendeckend wieder verloren haben, dass

sie die Demontage wesentlicher Eckpfeilerder sozialen Sicherung (Rente mit 65,paritätische Finanzierung) nicht verhindernkonnten und dass sie in Zeiten der Konjunk-tur und des Beschäftigungsaufbaus, in denenGewerkschaften normalerweise wachsen understarken müssten, allen Tatarenmeldungenzum Trotz permanente Mitgliederverluste zuverzeichnen haben? Für diesen dramatischenSachverhalt gibt es keine überzeugenden Ant-worten und Analysen, aber viele vordergrün-dige, zirkuläre, personalisierende, oberfläch-lich soziologische Erklärungen: Wenn esallein die neoliberale Ideologie wäre, woherkäme sie dann, warum ist sie plötzlich soerfolgreich? Wenn es eine neue Aggressivitätund Rücksichtslosigkeit des Kapitals seinsoll, war das Kapital dann früher wenigermaßlos, bzw. wieso konnte diese neueAggressivität soviel Spielraum bekommen?Wenn es konfliktscheue Führungen sein soll-ten, waren Heinz Kluncker oder Hans Maierradikalere Gewerkschaftsführer als FrankBsirske oder Berthold Huber? Liegt es amDruck der Arbeitslosigkeit? Warum ist es inder Hochkonjunktur nicht gelungen, diesedurch Arbeitszeitverkürzung abzubauen?Liegt es an neuen Arbeitsformen oder aneiner soziologisch anderen Zusammenset-zung der ArbeiterInnenklasse – warum errei-chen Gewerkschaften diese neuen Gruppennicht mehr, und warum ist ihnen das beifrüheren Veränderungen eher gelungen usw.?

Ohne ein Verständnis der bisherigen Ohn-macht wird es keine neue Gegenmachtper-spektive geben. Vordergründige betriebswirt-schaftliche Organisationsentwicklungsansätzewie Chance 2011 bei ver.di oder Beschwö-rungen und Hauruck-Appelle à la Trendwen-de 2010 beim DGB werden auch mit weite-ren Vordatierungen nicht funktionieren. Ein»weiter so« wird angesichts der Wucht derKrise für die Gewerkschaften allmählich exis-

Fortsetzung von Seite 3 unten

Juristisch arm... aber weder amtlich noch politisch

express 1/2009 5

bereits zwei ähnlich gelagerte Ver-fahren anhängig.

Die Kritik des BSG wird auchdurch die von der Koalition beimzweiten Konjunkturprogramm be-schlossene Erhöhung der Sätze fürKinder nicht hinfällig. Danach sol-len die Sätze für Kinder unter 14Jahren zum 1. Juli von 60 auf 70Prozent des Betrages steigen, dereinem alleinstehenden Erwachsenbei Hartz IV zusteht. Das BSG hat-te seine Entscheidung aber gerademit diesen festen Prozentsätzenbegründet, die den Bedarf einesKindes nicht berücksichtigen. »Esist und bleibt ein Irrsinn, den Satzfür Kinder von Personen abzuleiten,bei denen gar keine Ausgaben für

Babywindeln, Spielsachen oderSchuhe für schnellwachsende Kin-derfüße anfallen«, kritisierte MartinKünkler. Die Hartz IV-Sätze müss-ten sich an den tatsächlichenKosten für ein Kind orientieren.

Die KOS fordert, die statistischerfassten Ausgaben von Haushaltenmit mittlerem Einkommen für einKind für Ernährung, Gesundheitund Bildung zu 100 Prozent in dieHartz IV-Sätze zu übernehmen unddie anderen Ausgaben wie etwa fürBekleidung oder Freizeit zu 50 Pro-zent. Danach ergeben sich Sätze von300 Euro für Kinder unter Jahren,350 Euro für Kinder zwischen sie-ben und 13 Jahren und 400 Euro ab14 Jahren.

Auch die Wirtschaftskrise macheverbesserte Hartz IV-Leistungen fürdie bald wieder stark steigende Zahlder Erwerbslosen notwendig.Höhere Leistungen stärkten zudemdie Kaufkraft und somit die Nach-frage im Inland.

(Aus: Pressemeldung der Koordinierungsstellegewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen vom 27.Januar 2009; weitere Informationen unter:www.erwerbslos.de)

tenzbedrohend. Andererseits sind Krisenzei-ten bekanntlich Erkenntniszeiten, und viel-leicht stehen die Chancen unter diesen dra-matischen Bedingungen besser, dass sich dieGewerkschaften mit ihren gravierendenstrukturellen Defiziten befassen und sich aufden langen Weg zu Widerstandsorganisatio-nen im globalen Kapitalismus begeben. Ein-mal mehr gilt mit Bert Brecht: »Wer sichselbst versteht, wie soll der aufzuhalten sein?«

* Werner Sauerborn arbeitet für den ver.di-LandesbezirkBaden-Württemberg

Anmerkungen:1) Richard Detje: »Tod des Neoliberalismus – Krise der

Gewerkschaften«, in: Sozialismus, Nr. 12/20082) Ralf Krämer: »Wie Gegenmacht organisiert werden soll.

Forderung nach der Verstärkung des Drucks auf Regie-rungen«, unter anderem erschienen in express, Nr.12/2008, S. 2

3) Michael Wendl: »Keynesianismus als Feindbild?«, in:Sozialismus Nr. 2/2009

4) S. die gekürzte Fassung »Aktiv werden für eine sozialeAntikrisenpolitik« in express, Nr. 12/2008 sowie dieLangfassung auf: http://wipo.verdi.de

5) »Was muss nach dem grandiosen Bankrott der Finanz-marktjongleure noch geschehen, bis die Politik bereit ist,umzusteuern?« Frank Bsirske in: ver.di publik, Nr.11/2008

6) Mit der realistischen Sicht dieser Klassenverhältnissegeht man nicht der Gegenseite und ihrer neoklassischenDoktrin auf den Leim, wie Michael Wendl meint (S.3), sondern schafft bessere Voraussetzungen für eineerfolgreiche Gegenstrategie.

7) Entsprechend vordergründig erklärt Michael Wendl dentarifpolitischen Krebsgang der Gewerkschaften imWesentlichen zu einem ideologischen Problem, das dar-in bestehe, dass die Tarifpolitik nicht auf die keynesia-nische Wirtschaftpolitik höre, ihr nicht folge, weil es»eine Art ›Firewall‹ zwischen den verteilungspolitischenund tarifpolitischen Analysen von IMK, WSI, aberauch dem eigenen Bereich Wirtschaftspolitik und derpraktischen Tarifarbeit von ver.di« gebe. (S. 5)

8) Ebenso wenig vorstellbar ist eine gewerkschaftlicheMobilisierung für das von Richard Detje skizzierteModell einer europäischen Mixed Economy, das er alsAntwort auf die Krise skizziert, vgl. S. 42.

9) Im Detail ist z.B. zu fragen, ob die Forderung nachWiedereinführung der Pendlerpauschale perspektivischim ArbeitnehmerInneninteresse ist, oder ob die von derSPD inspirierte Forderung nach Geschenkgutscheinen,die betrieblich wegen ihres Strohfeuereffekts kaum mit-getragen wird, aber auf Platz zwei der ver.di-Forde-rungsliste gesetzt wurde, mobilisierungsfördernd wirkt.Generell ist zu fragen, ob die Verschuldungsfolgen einerkeynesianischen Wirtschaftspolitik nicht zu leichtgenommen werden. Auf welche Weise letztlich derSchuldenabbau erfolgt, ob durch Hyperinflation odergar Währungsreform, ist schließlich auch eine Vertei-lungs- und damit Machtfrage. Man erinnere sich nuran die best-practise-mäßige Berufung der keynesiani-schen Linken auf das US-deficit-spending der Bush-Ära, das vermeintlich nur den einen Haken gehabthabe, dass es für Rüstungs- statt für Infrastrukturaus-gaben erfolgt sei.

10) ver.di-Info, Nr. 2/2008 zur Tarifrunde Länder, Nov.2008, S. 2

11) Die Geringschätzung des Globalisierungskontextes zeigtsich auch in der fast synonymen Bezugnahme auf dieeuropäische und globale Ebene. Ob aus geografischenoder anderen pragmatischen Gründen gilt das größereInteresse Europa. Europa ist jedoch nicht der Auswegaus der Globalisierungsfalle, sondern eine lediglicherweiterten Ebene der Standortkonkurrenz, bei der esim Sinne der Lissabon-Strategie statt um deutsche umeuropäische Standortinteressen gegenüber anderenWirtschaftsregionen der Welt geht.

12) »Einem sozialen Europa die Zukunft geben. Manifestzur Europapolitik – Grundzüge eines alternativenWirtschafts- und Sozialmodells für die EU«, Beschlussdes ver.di-Gewerkschaftsrats vom 30.9./1.10 2008

13) Die Sorge, im globalen Kapitalismus müsste zu Demosgrundsätzlich nach Brüssel oder New York angereistwerden, ist daher unbegründet.

Der folgende Beitrag ist ein Kommen-tar zu der in der November-Ausgabedes express veröffentlichten Kritik desAK Weltwirtschaftskrise von ver.diBaden-Württemberg an den bis dahinzurückhaltenden Reaktionen vonDGB-Gewerkschaften auf die sogenannte Finanzkrise sowie auf dieReplik von Ralf Krämer aus der Abtei-lung Wirtschaftspolitik des ver.di-Hauptvorstandes in der letzten Ausga-be des express. Wir freuen uns überdie Fortsetzung der Debatte unddokumentieren:

Die Reaktionen des DGB und seiner Mit-gliedsorganisationen auf die gegenwärtigeWirtschafts- und Finanzkrise führen ein wei-teres Mal vor Augen: Ein linker Ratschlagüber Probleme, Sackgassen und Perspektivengewerkschaftlichen Handelns tut Not. Dassder express Platz für diese Debatte bietet, istdeshalb zu begrüßen. Zumal es sich bei denbisher veröffentlichen Diskussionsbeiträgenum lohnenswerte Lektüre handelt. Sowohlder Text des AK Weltwirtschaftskrise (ver.diBaden-Württemberg) als auch das von RalfKrämer (ver.di-Abteilung Wirtschaftspolitik)Geschriebene liefern Ansichten, die zumNachdenken und Kommentieren anregen.Mein Statement zu den beiden Beiträgenkonzentriert sich, wie die folgenden Zeilenzeigen werden, auf den Aspekt »Keynesianis-mus«.

Der AK Weltwirtschaftskrise skizziertrecht anschaulich die Folgen der Wirtschafts-und Finanzkrise für Lohnabhängige. Auchdie Passagen, wo der Arbeitskreis auf dieBesorgnis erregende Handlungsschwäche derGewerkschaften zu sprechen kommt, lieferneine Reihe nachvollziehbarer Befunde. Pro-bleme bereiten mir hingegen einige Argu-mentationsstränge im Perspektivabschnitt.Dort wird der »Nationalkeynesianismus« alsein antiquiertes und vom globalisierten Kapi-tal instrumentalisierbares Politikkonzept cha-rakterisiert. Für durchaus realistisch undunterstützenswert hält der AK Weltwirt-schaftskrise aber anscheinend einen von derEuropäischen Union gestützten »Eurokeyne-sianismus«. Wirklich gewerkschaftsfreundlichmutet das aktuelle Krisenmanagement derEU-Entscheidungszentralen freilich nicht an.Und ob eine europaweite Vernetzung der Ge-werkschaften daran in absehbarer Zeit etwasändern würde, wage ich zu bezweifeln. Dasinstitutionelle Gefüge in Brüssel hat im Lau-fe der 1980er und 90er Jahre einen politi-schen Entscheidungsmechanismus ausge-formt und verfestigt, dem bis in den Main-stream der Politikforschung hinein eine hart-

näckige Privilegierung von Kapitalinteressenattestiert wird.

Ist eine »nationalkeynesianische« Strategieaus gewerkschaftlicher Perspektive womöglichdoch erfolgsträchtiger? Ralf Krämer ist offen-bar dieser Ansicht. Er diagnostiziert eine»günstige Diskurslage«: In vielen National-staaten, nicht zuletzt in der Bundesrepublik,sei sowohl bei den Regierten als auch bei denRegierenden eine Abkehr vom Neoliberalis-mus beobachtbar. Darauf müssten die Ge-werkschaften reagieren: Krämer sieht dieChance, mittels »Druckentwicklung auf dienationalen Regierungen« nicht nur einer(sozial-)staatlichen Re-Regulierung des Kapi-talismus den Weg zu ebnen, sondern auch dieVoraussetzungen zu schaffen »für weiterge-hende Veränderungen im Interesse der abhän-gig Beschäftigten und der Mehrheit derBevölkerung«. Plädiert wird also, ganz im Sti-le klassischer Juso-Positionen, für einen »anti-kapitalistischen Keynesianismus«. Der war inder SPD der 1970er Jahre ziemlich populär,stieß aber damals auch auf viel Kritik vonlinks. Sie artikulierte sich insbesondere in derstaatstheoretischen Debatte. Die linke Kritikdes Linkskeynesianismus bezweifelte, dassausgerechnet der eng mit den kapitalistischenVerhältnissen verwobene Staat zu einer letzt-lich gegen die Profitlogik gerichteten Wirt-schaftspolitik willens und in der Lage wäre.

Diese Zweifel sind meines Erachtens nachwie vor berechtigt: Schon vor dem Ausbruchder aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrisehatte der orthodoxe, sich betont marktbe-geistert und antistaatlich gebärdende Neoli-beralismus seinen Zenith überschritten.Blickt man auf die aktuellen Wirtschaftspoli-

tiken, ist aber von einem linkskeynesiani-schen Aufbruch nichts zu sehen. Auf demVormarsch scheint in vielen Staaten ein neo-keynesianischer Ansatz zu sein, der auf einer»pragmatischen Synthese« neoklassischer undkeynesianischer Vorstellungen beruht undden kriselnden Kapitalismus durch eine regu-lierungsfreudige Standortpolitik wieder inSchwung bringen will. Es ist gut möglich,dass der Neokeynesianismus auf »Druckent-wicklung« reagiert und für das eine oderandere gewerkschaftliche Anliegen ein offe-nes Ohr zeigt. Er wird aber trotzdem wenigmit dem gemein haben, was sich Gewerk-schaftslinke à la Ralf Krämer unter alternati-ver Wirtschaftspolitik vorstellen.

Mein Fazit: Die Gewerkschaftslinke sollteihre Ressourcen nicht auf die Erstellunglinks- oder eurokeynesianischer Politikent-würfe konzentrieren. Andere Aufgabenerscheinen mir angesichts der aktuellen Wirt-schafts- und Finanzkrise dringlicher. ZumBeispiel, gegen eine verkürzte Kapitalismus-kritik Widerspruch anzumelden. Dass »Heu-schrecken« und »Spekulanten« der Kern allenÜbels seien, ist ein populäres Muster der Kri-sendeutung – gerade in den Reihen derGewerkschaften und ihrer Bündnispartner.Umso wichtiger ist es, dass die Gewerk-schaftslinke – ohne oberlehrerhaft daherzu-kommen – elementare Funktionslogikenkapitalistischer Herrschaft und Ausbeutungthematisiert. Vielleicht kommt ihr dabei jadas vielerorts wiedererwachte Interesse an derMarxschen Theorie zu Gute.

* Geert Naber arbeitet bei der Deutschen Postund ist ver.di-Mitglied.

Keynesianismus?Geert Naber* zur Debatte über Gewerkschaften in der Krise

6express 1/2009

Liebe Kollegin, lieber Kollege, wir wollen nicht länger zuschauen, wie erneutPolitik zu unseren Lasten betrieben wird. Wirwollen uns dagegen wehren, dass die Krisenla-sten erneut auf die Masse der Bevölkerungabgewälzt werden. Wir wollen, dass die Verur-sacher der Krise und Profiteure der vergange-nen Jahre zur Kasse gebeten werden und nichtdie Beschäftigten, Erwerbslosen, RentnerIn-nen, SchülerInnen und Studenten.

Wir fordern: ● eine Millionärssteuer von 5 Prozent; die

Einführung einer kräftigen Vermögensteuerfür die großen Absahner ● Reallohnerhöhungen statt Lohnsenkun-gen; einen gesetzlichen Mindestlohn von7,50 Euro die Stunde statt Hungerlöhnen;Gleichstellung von befristeten und leiharbei-tenden mit Tarifbeschäftigten; eine Entlas-tung der unteren und mittleren Einkommen ● ein Zukunftsinvestitionsprogramm fürsoziale Dienste, Bildung, Infrastruktur undden ökologischen Umbau von jährlich 50Mrd. Euro. Damit kann eine Million Arbeits-plätze geschaffen werden

● die Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf435 Euro; Abschaffung von Hartz IV ● die Rente mit 65 und eine armutsfesteMindestrente; die Stärkung des gesetzlichenRentensystems ● Arbeitszeitverkürzung statt Arbeitslosigkeit ● eine öffentliche Kontrolle über die Ban-ken. Das Casino muss geschlossen werden, d. h. Verbot von riskanten Spekulationsge-schäften und Trockenlegung der Steueroasen ● die Stärkung des öffentlichen Sektors stattPrivatisierung öffentlicher Einrichtungen ● Demokratie und politisches Streikrecht.

Das Diktat der Finanzmärkte muss durchmehr Demokratie in der Wirtschaft beseitigtwerden. Wir wollen politisches Streikrechtwie in fast allen europäischen Ländern.

Bundesregierung verkennt den Ernst der Lage Die Wirtschaftskrise verschärft sich vonMonat zu Monat. Es droht die schwersteWirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Schon stei-gen die Arbeitslosenzahlen, über eine MillionArbeitsplätze sind in Gefahr. Viele Leiharbei-terInnen wurden schon nach Hause geschicktund sind arbeitslos. Immer mehr Beschäftigtemachen Erfahrung mit Kurzarbeit oder unbe-zahlter Arbeitszeitverkürzung. Für die Ret-tung der Banken konnte die Bundesregierung

die höchsten Renditen. Etwa ein Tausendstelder Weltbevölkerung hat davon besondersprofitiert. Die Milliarden, die jetzt zur Sanie-rung des Finanzsektors ausgegeben werden,dürfen nicht auf Kosten der großen Mehrheitgehen. Wir werden nicht hinnehmen, dassBeschäftigte, Erwerbslose, RentnerInnen,SchülerInnen oder Studierende die Zechezahlen! Genauso wenig darf die Krise auf dieLänder des Südens oder die Umwelt abge-wälzt werden.

Wir überlassen den Herrschenden nicht das Feld Der Welt-Finanzgipfel der G20 setzt auf alteStrukturen und Machtverhältnisse. DieRegierungsberater, Wirtschaftsvertreter undLobbyisten sind nicht vor Scham im Bodenversunken, sondern betreiben weiter ihreInteressenpolitik. Um Alternativen durchzu-setzen, sind weltweite und lokale Kämpfeund Bündnisse (wie z.B. das Weltsozial-forum) nötig – für soziale, demokratischeund ökologische Perspektiven. Die Demon-strationen am internationalen Aktionstagzum G20-Gipfel sind erst der Anfang.

Menschen vor ProfiteWir demonstrieren für Sofortmaßnahmen,die den Opfern der Krise helfen, aber gleich-zeitig den ökologischen und demokratischenUmbau der Wirtschaft vorantreiben – alsSchritte auf dem Weg in eine solidarischeGesellschaft:● Für umfangreiche Investitionsprogrammein Bildung, Umwelt- und Klimaschutz,öffentliche Infrastruktur und Gesundheit. ● Für einen sozialen Schutzschirm fürBeschäftigte, Erwerbslose und RentnerInnen:armutsfester gesetzlicher Mindestlohn. Wegmit Hartz IV und Agenda 2010, für sofortigeexistenzsichernde Erhöhung des Eckregelsat-zes. Weg mit der Rente mit 67, für armuts-

feste Renten ohne Lebensarbeitszeitverlänge-rung. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnver-zicht statt Massenentlassungen und Arbeits-losigkeit. Die notwendige Konversion z.B.der Automobilindustrie darf nicht auf demRücken der Beschäftigten stattfinden.● Dafür, dass die Profiteure die Kosten derKrise bezahlen: Mit einer Sonderabgabe aufgroße Vermögen und einer Millionärssteuer.Der Bankenrettungsfonds muss von denBanken finanziert werden. Eine »Bad Bank«,die lediglich die Verluste sozialisiert, darf esnicht geben.● Für die demokratische Ausrichtung vonWirtschaft und Banken. Der private Banken-sektor muss gesellschaftlich kontrolliert undam öffentlichen Interesse orientiert werden.Die Steueroasen sind endlich zu schließen;Banken, die dort arbeiten, müssen bestraftwerden. Das weltweite Finanzsystem mussreguliert und demokratisch kontrolliert wer-den. Hedgefonds und andere spekulative»Instrumente« sind zu verbieten. Betriebe,die öffentliche Finanzhilfe bekommen, dür-fen nicht entlassen. Die Beschäftigten brau-chen Veto-Rechte bei grundlegenden wirt-schaftlichen Entscheidungen. ● Die Krise darf nicht auf die Menschen desglobalen Südens und die Natur abgewälztwerden. Maßnahmen gegen die Klimakatas-trophe und den weiteren Raubbau sind über-fällig und müssen schnell umgesetzt werden.Geld für die Bekämpfung der Armut und fürsolidarische Entwicklung der Welt muss zurVerfügung gestellt werden. Die Liberalisie-rung von Finanzmärkten und Handel ist zustoppen und zurückzunehmen.

Krise und Krieg Über eine Billion Euro werden weltweit fürRüstung vergeudet – zwei Drittel davon inden NATO-Ländern. Und: die kapitalistischeKrise erhöht die Gefahr dass Kriege geführt

werden. Deshalb demonstrieren wir am 3.und 4. April beim NATO-Jubiläum in Stras-bourg/Baden-Baden gegen Krise und Krieg.

Der Protest geht weiter:● Am 1. Mai bei den Kundgebungen und

Maidemonstrationen● Am 16. Mai bei der bundesweiten

Demonstration des DGB in Berlin● Vom 15. bis 17. Juni:

in der bundesweitenAktionswoche Bil-dungsstreik

Der Kapitalismus steckt in seiner schlimms-ten Krise seit 1929. Sie hat verschiedeneGesichter: die Beschleunigung des Klima-wandels, Kriege um den Zugang zu Rohstof-fen, Hungerrevolten, Finanzmarkt-Crashund Rezession. Ausgehend von den Indus-trieländern wird auch der globale Süden hartgetroffen, weil noch weniger Mittel für Kli-maschutz und Entwicklung bleiben, undweil die globale Konkurrenz um Märkte undProfit noch brutaler zu werden droht. Millio-nen Menschen verlieren ihre Arbeit, ihreWohnungen und ihre Lebensperspektiven.

Zeit für Systemwechsel – Für eine solidarische GesellschaftDie Entfesselung des Kapitals und dererpresserische Druck der Finanzmärktehaben sich als zerstörerisch erwiesen. Einanderes Weltwirtschaftssystem ist nötig.Eines, das Mensch und Natur dient; das aufden Prinzipien globaler Solidarität, ökologi-scher Nachhaltigkeit und demokratischerKontrolle aufbaut. Dazu gehört, dass Bil-dung, Gesundheit, Alterssicherung, Kulturund Mobilität, Energie, Wasser und Infra-struktur nicht als Waren behandelt werden,sondern als gesellschaftliche Leistungen, dieallen Menschen zur Verfügung stehen müs-sen.

Die Reichen und Profiteure sollen zahlenWir wollen, dass die Verursacher der Krisezur Kasse gebeten werden. Das globale priva-te Geldvermögen hat im Jahr 2007 die Sum-me von 105 Billionen Dollar erreicht und istin acht Jahren um 50 Prozent angestiegen.Das ist das Ergebnis einer massiven Umver-teilung von Unten nach Oben, von Süd nachNord, von den BezieherInnen von Lohn-(Ersatz-)einkommen zu den Kapital- undVermögensbesitzern. Den Banken und Fondswar kaum ein Risiko zu groß im Kampf um

Auch in und trotz der Krise: bekannte Reaktions-muster allerorten. Es wird, anders als in Frank-reich, keine gemeinsamen Demonstrationsterminegegen die Abwälzung der finanziellen Folgen derWirtschaftskrise geben – weder innerhalbDeutschlands noch auf europäischer Ebene. Ähn-lich wie für die EU-Integration angesichts deroffenkundigen Diskrepanzen in den Lebens- undArbeitsbedingungen – insbesondere der neuenosteuropäischen Mitgliedsländer – de facto mitt-lerweile das Prinzip des »Europas der zwei

Geschwindigkeiten« gilt, findet auch die gewerk-schaftliche Koordinierung bzw. Kooperation aufunterschiedlichen Niveaus statt. Die Hauptvor-stände wichtiger deutscher Einzelgewerkschaftenund der DGB lassen es sich nicht nehmen, eineneigenen Demotermin zu platzieren und habenbereits existierenden Initiativen, die sich ausBündnissen sozialer Bewegungen und gewerk-schaftlicher Einzelgliederungen gebildet hattenund für den 28. März zu bundesweiten Demos inFrankfurt a.M. und Berlin werben, eine Absage

erteilt. Wir dokumentieren hier die unterschiedli-chen Aufrufe und Begründungen für die geplantenProteste und haben uns erlaubt, einen kleinen Rät-selspaß daraus zu basteln, indem wir die Namender aufrufenden Organisationen weglassen. Also:Wer will was, wer war’s gewesen? Wohin würdetIhr am Liebsten gehen? Professionelle Protagonis-ten der sozialen Bewegungen wissen es sowieso,gewiefte LeserInnen finden es sicher leicht heraus. Auflösung im nächsten express – oder in der Praxis!

Welche Demo, wessen Krise?EGB, DGB, ver.di und IGM verzichten auf Kooperation mit Protestbewegungen

»Wir zahlen nicht für eure Krise!«»Für eine solidarische Gesellschaft«

»Wir bezahlen Eure Krise nicht«

express 1/2009 7

in kürzester Zeit 500 Mrd. Euro mobilisie-ren. Beim »Rettungsschirm« für Arbeitsplätzewurde wieder geknausert. Jetzt legt die Bun-desregierung ein Konjunkturprogramm auf.Zu spät, zu widersprüchlich und z.T. sozialungerecht.

Umverteilung zugunsten der Reichen undKapitalbesitzer – Ursache der Krise Die Wirtschaftskrise wird durch den Zusam-menbruch der Finanzmärkte erheblich ver-schärft. Sie begann jedoch bereits im Früh-jahr. Erstmals in der Nachkriegsgeschichtesind die Reallöhne im letzten Aufschwungnicht gestiegen. Viele Beschäftigte habenweniger im Geldbeutel als 2003. Die Agenda2010 hat viele Menschen gezwungen, zu

Hunger- und Niedriglöhnen zu arbeiten. Vie-le Erwerbslose verarmten systematisch.

Rentnerinnen und Rentnern wurden Ren-tenerhöhungen vorenthalten. Alles ein riesi-ger sozialpolitischer Skandal! Mit verheeren-den wirtschaftspolitischen Folgen. Die Bin-nennachfrage schrumpft weiter. Durch dieSteuergeschenke an Reiche hat die Regierungimmer neue »Sachzwänge« geschaffen, umunsere Daseinsvorsorge zu verschlechtern.

Dagegen sind die Gewinne und Vermögender Reichen in unvorstellbarem Ausmaße indie Höhe geschossen. In den letzten zehnJahren sind die arbeitenden Menschen umeine Billion Euro enteignet worden. Einkas-siert haben sie Reiche und Vermögende. 500Milliarden zu Lasten der Löhne und 500

Milliarden durch Steuergeschenke des Staa-tes. Große Teile dieser Gelder sind nicht inAnlagen oder gar Arbeitsplätze investiert,sondern auf den internationalen Finanzmärk-ten angelegt worden. Viele mittlere Betriebebekommen jetzt keine Kredite, um ihre In-vestitionen zu finanzieren oder Engpässe zuüberbrücken.

Renditeversprechungen von 15 bis 25 Pro-zent waren zu verlockend. Die Zeche dieserPolitik sollen die Beschäftigten, RentnerIn-nen und Erwerbslose bezahlen. Nach derBundestagswahl droht die Agenda 2020;Sozialabbau in ungekannterGrößenordnung. Dies droht,wenn wir nicht jetzt Gegen-wehr organisieren!

Europaweite Demonstrationen

»Wir zahlen nicht für eure Krise!«Der folgende Entwurf war zum Zeit-punkt des Redaktionsschlusses nochnicht verabschiedet.

Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise istnicht einfach nur das folgenschwere Werkvon gierigen Spekulanten und renditegeilenBankmanagern. Es sind nicht hauptsächlichbestimmte Personen, die das verschulden,sondern das Wirtschafts- und Finanzsystem,das periodisch eine Überproduktion anWaren und Kapital erzeugt. Waren, die keineKäufer mehr finden, Kapital, das keinezufrieden stellende Rendite mehr erzielt unddeshalb »kreative Finanzprodukte« erfindet,um Renditen zu verbessern. Jetzt ist diesegewaltige Blase geplatzt.

Aber auch ohne diese Blasen (etwa imUS-Immobiliensektor) steckt der Kapitalis-mus in seiner tiefsten und umfassendstenKrise seit 1929: von der Beschleunigung desKlimawandels über imperialistische Kriegeum den ungehinderten Zugang zu den Roh-stoffen, von den Hunger- und Armutskrisen

in den unterentwickelt gehaltenen Ländernbis zu der jüngsten Weltwirtschaftskrise: DerKapitalismus kann der Menschheit keinePerspektive bieten! Solange die Verwertungvon Kapital das A und O unseres Wirt-schaft- und Finanzsystems ist, kommen dieKrisen immer wieder, und die Folgen füruns werden immer verheerender: Verlust desErsparten, Arbeitslosigkeit, Sozialabbau,Armut etc.

Aber die Profiteure dieses Systems werdendeswegen noch lange nicht den Weg freimachen für eine vernünftige Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung. Kabinett undKapital versuchen, die Lösung ihrer Krise aufunserem Rücken auszutragen: Die Milliar-den, die heute für die Sanierung der Bankenausgegeben werden, werden sie sich überneue Abgaben und Steuern sowie über dieEinschränkung von Sozialausgaben wiederholen wollen: Privatisierungen und Ein-schränkung der öffentlichen Daseinsvorsor-ge, Kürzung von Transferzahlungen,Lohnkürzungen usw.

Wir machen da nicht mehr mit! Es reicht!Unsere Lösungen sehen anders aus!

Wofür wir eintreten:Statt Rettungspakete für Banken, Unterneh-men und Vermögende:● Anhebung des Spitzensteuersatzes auf wieder mindestens 56 Prozent! Wiedereinführung der VermögenssteuerStatt Verzichtslogik zum Wohle des »Stand-orts Deutschland«:● In allen Branchen: Gesetzlicher Mindestlohnvon wenigstens 10 Euro steuerfrei sofort!Statt Ausgrenzung der Erwerbslosen:● Anhebung des Eckregelsatzes ALG II aufmindestens 500 Euro + Warmmiete. Weg mit Hartz IV!Statt Arbeitszeitverlängerung:● Arbeitszeitverkürzung bei vollem Entgelt-und Personalausgleich! 30-Stunden-Wochesofort!Statt Altersarmut und Rente mit 67:● Rente mit 60 Jahren, ohne Abschläge!Statt Sozialisierung der Verluste durch stän-diges Reinpumpen von Steuermitteln:● Vergesellschaftung der Ban-ken, ohne Entschädigung undunter demokratischer undöffentlicher Kontrolle!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Initiative nicht zuletzt von ver.di und denanderen deutschen Gewerkschaften wird derEuropäische Gewerkschaftsbund (EGB) am5. Februar 2009 auf einer außerordentlichenVorstandssitzung beschließen, Mitte Mai (daskonkrete Datum wird am 5. Februar festge-legt) in mehreren europäischen Hauptstädten

gleichzeitig Demonstrationen durchzuführen. Die Demonstrationen werden die gewerk-

schaftlichen Forderungen zur Bekämpfungder Wirtschafts- und Finanzmarktkrise sowieunsere Alternativen zur neoliberalen Ausrich-tung des europäischen Integrationsprozessesin den Mittelpunkt rücken. Die Mobilisie-rung zu diesen Demonstrationen dientzugleich der Vorbereitung auf die Europa-wahlen Mitte Juni diesen Jahres.

Als Orte für zentrale europäische De-monstrationen sind bisher in der Diskussion:Madrid, Rom, Paris, Brüssel, Stockholm,Warschau und Prag. Im DGB Bundesvor-stand haben wir uns in dieser Woche daraufverständigt, dem EGB auch Berlin alsDemonstrationsort vorzuschlagen.

Ich gehe davon aus, dass dies im EGB-Vorstand begrüßt werden wird. Die Bundes-republik Deutschland ist in der EU eingewichtiger Akteur. Dieses Gewicht mussjetzt eingebracht werden, um der auf Lohn-drückerei zielenden Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofes mit einer Ände-rung der Arbeitnehmer-Entsenderichtlinieund einer sozialen Fortschrittsklausel im EU-Vertrag zu begegnen. Die Grundrechte derVerfassung müssen Vorrang vor dem Wettbe-werbsrecht haben. Das ist die Forderung dereuropäischen Gewerkschaften, auch dafürwerden wir Mitte Mai demonstrieren.

Unsere Demonstrationen müssen dieKraft der europäischen Gewerkschaften zumAusdruck bringen. Der neoliberale Kurs inEuropa muss gestoppt und der Wirtschafts-krise eine koordinierte europäische Wirt-schaftspolitik entgegengesetzt werden.

Deshalb gilt es, mit aller Kraft zu diesen

Demonstrationen zu mobilisieren. Diegesamte Organisation wird dafür auch finan-zielle Mittel einsetzen müssen. Der Bundes-vorstand ist aber überzeugt, dass wir gemein-sam mit dem EGB und den Gewerkschaftenin Europa jetzt handeln müssen und dass mitdiesen Demonstrationen der Akzent im Vor-feld der Europawahl richtig gesetzt wird.

Der ver.di Bundesvorstand hat sich am 19.Januar 2009 auch mit Initiativen zu weiterenDemonstrationen befasst. So wird ein Bünd-nis linker Gruppen unter dem Motto »Wirzahlen nicht für eure Krise« für den 28. März2009 aus Anlass des G-20-Gipfels zu Demon-strationen in Frankfurt/Main und Berlin auf-rufen. Der Bundesvorstand wird zu diesenDemonstrationen nicht aufrufen, auch weilwir es nicht für realistisch halten, binnen ein-einhalb Monaten zweimal zu zentralenDemonstrationen in Berlin zu mobilisieren.Wir wollen stattdessen alle Kraft auf diegewerkschaftliche Demonstration im Maikonzentrieren. Die Mobilisierung zu dieserDemonstration können wir gut mit unsererzentralen Kampagne »Stimmen für den Min-destlohn« verbinden und dafür nutzen, dieDiskussion über die Wirtschaftskrise und ihreBekämpfung in die Betriebe zu tragen (Rede-bausteine sind im Intranet veröffentlicht).

Über die Beschlüsse der EGB-Vorstandssit-zung am 5. Februar 2009 werden wir zeitnahinformieren. Materialien zur Mobilisierungfür die Demonstrationen im Mai werden wirfrühzeitig zur Verfügung stellen. In der Ar-beitsplanung der Organisati-onsgliederungen ist dies ent-sprechend zu berücksich-tigen.

8express 1/2009

Die Dezember-Betriebsversamm-lung in der Schleyerhalle ist fastschon wieder vergessen, trotz derHollywood-reifen Inszenierungenmit Selbstbeweihräucherungs-Film-chen und salbungsvollen Worten.Weil die Krisenverursacher da obenweiter wie die Made im Speck lebenund die Folgen der Krise auf unsabwälzen, wollte sich das erwünsch-te »Wir sitzen alle in einem Boot«-Gefühl bei den Zuhörern da unteneinfach nicht einstellen.

Vielleicht erinnern sich mancheKollegInnen auch noch daran, dassHerr Stauch im Bericht der Werk-leitung die Erfolge seiner Rationali-sierungs-Programme gefeiert hat:

● Produktivitätssteigerungen 2005bis 2008 um 25 Prozent. Produk-tivitätssteigerung um 25 Prozentheißt: Das selbe Produktionspro-gramm kann mit 25 Prozent weni-ger Personal gemacht werden. DieFrage ist also nahe liegend: ● Wieviel der Kurzarbeit hat inWirklichkeit solche Hintergründe?Und hat die Belegschaft irgendeinenGrund, diese »Erfolge« des HerrnStauch als Erfolg zu empfinden? ● »Wir sind auf der richtigenSpur«, meinte Herr Stauch. Aberdie Spur, auf die Herr Stauch, derVorstand und die Politik lenken,fährt die Belegschaften direkt andie Wand:

● »Einschnitte wird es geben«, sag-te Herr Stauch. Das heißt, dassVorstand und Werkleitung neueErpressungsforderungen stellenwerden: Pausen, Arbeitszeiten,Wochenende, Lohn – alles werdensie versuchen anzugreifen. (...)

Garantiert sicher ist: Auch dieUnternehmer-Parteien CDU, FDPund SPD werden uns nach derBundestagswahl die Rechnung prä-sentieren. Die hunderte Milliardenteuren »Rettungsschirme«, die sieden Banken und Konzernen zu-kommen lassen, sollen dann wirbezahlen. Nach der Bundestags-wahl droht die Agenda 2020; So-

zialabbau in ungekannter Größen-ordnung. Dies droht, wenn wirnicht jetzt Gegenwehr organisieren!

Gegen die Wegelagerei vonKapital und Kabinett hilft nur mas-siver Druck – im Betrieb, vor demBetrieb, und auf den Straßen. Des-halb jetzt schon vormerken:

Bundesweite Demonstrationenin Frankfurt und Berlin am Sams-tag, dem 28. März 2009!

IG Metall, Vertrauensleute, Be-triebsräte müssen schon heute an-fangen, dafür mobil zu machen!

(aus: alternative, Zeitung für die Kolleginnenund Kollegen im Daimlerwerk Untertürk-

heim, Nr. 59, Januar 2009)

In Krisenzeiten können Denkblocka-den aufgelöst werden, neue Erkennt-nisse und Perspektiven entstehen.Das allerdings sagt noch nichts überdie Qualität der Einsichten. NachdemSam Gindin (Canadian Auto Workers)im letzten express Aufgaben der Lin-ken angesichts der Krise skizziertund davor gewarnt hatte, staatlicheSchuldenübernahme, Stützungskredi-te oder Kapitalmehrheiten bereits füreine Abkehr vom Neoliberalismusoder gar eine veränderte Gesell-schaftspolitik zu halten, schildertJane Slaughter, welche Einsichten dieKrise in den USA produziert. Nebenalten Bekannten (»Schuld sind zuhohe Löhne«) begegnet uns dabeiauch ein echtes Kuriosum. Ausge-rechnet im Land der Demokratie sollein neuer Zar nach dem Rechtenschauen. Ob der Zarismus so einfachdemokratisch kontrollierbar ist, wieSlaughter vorschlägt?

In den 1980er Jahren hatte Chevrolet sichnoch selbst zum »Herzschlag Amerikas«ernannt, heute dagegen ist bei der US-Autoindustrie kaum noch ein Puls zu fühlen.Die erste Finanzspritze ist kaum gesetzt, damuss Washington bereits über den nächstenAufruf der Großen Drei (Ford, GM, Chrys-ler) zur Lebensrettung befinden.

Doch der Kongress sollte sich nicht rück-wärts von einem Hilfsprogramm ins nächstedrängen lassen – sondern mit den Füßen vor-an hineinspringen. Denn gebraucht werdenkeine halben Sachen, nicht eine Finanzspritzeim Tausch gegen den Verkauf von Firmen-jets. Man muss jetzt die Bedürfnisse des Lan-des als Ganzes in den Blick nehmen, stattStückwerk zu betreiben. Wenn nicht mutiggehandelt wird, werden die Steuergelder nurdafür verbraten, den Zusammenbruch nochein wenig hinauszuzögern. Mutiges Handelnhingegen könnte der Wirtschaft auf die Füßehelfen, Arbeitsplätze schaffen, das Transport-system umbauen, die Krankenversicherungdemokratisieren und die Umwelt retten.

Konzessionen werden dabei am wenigstengebraucht – sie wären ein Anti-Stimulus,auch wenn sich Meinungsführer, Politikerund die Manager der Großen Drei an diesemPunkt (und nur an diesem) einig sind: dassdie Autobeschäftigten dafür bestraft werden

müssen, dass sie die Überbleibsel ihrer harterkämpften Lebensstandards verteidigen.

Gewerkschaftsmitglieder müssen sich einempörendes Lamento von Nachrichtenmo-deratoren über hochbezahlte Facharbeiteranhören. Webseiten füllen sich mit Kom-mentaren von Leuten, die der Meinung sind,dass Leute, die sich bei der Arbeit die Händeschmutzig machen, es nicht verdienen, ihreKinder aufs College zu schicken.

Unbequeme Wahrheit

Dabei geht in der Aufregung darüber, oboder wie die Großen Drei noch zu rettensind, eine unbequeme Wahrheit unter: DieProbleme der Unternehmen lassen sich nichtdadurch lösen, dass die ArbeiterInnen an derBasis noch mehr gequält werden. Autofirmenhaben der UAW (United Auto Workers) imLaufe der letzten drei Jahre Konzessionen imWert von Milliarden abgerungen. Auch wenndie Beschäftigten umsonst arbeiten würden,würden die Autos, die sie bauen, damit nurum fünf Prozent billiger.

Die Regierung sollte also auf die gelände-wagengroßen Fehler der Großen Drei nichtihrerseits mit einem Fehler reagieren. Präsi-dent Obama, und mit ihm der neue Kongress,sollten eine visionäre Position einnehmen:

1.Sie sollten Klimaerwärmung undÖlabhängigkeit mit einem umfassen-

den Umbau des Transportsystems angehen.Die nationale Politik hat sich in diesemBereich seit den 1950er Jahren, als Benzinnoch für »a nickel a gallon« zu haben war,kein Stück weiterentwickelt. 1941, als dieRegierung plötzlich »Panzer statt Autos« for-derte, stellte sich die Autoindustrie in Detroitinnerhalb weniger Wochen um. DieselbeDringlichkeit ist heute angesagt, wenn es umInfrastruktur und Technik für den Bau vonÖPNV-Systemen und Hochgeschwindig-keitszügen geht.

Dasselbe gilt für Autos, deren Antriebnicht auf Öl basiert. Mit den kümmerlichenund zudem verspäteten Vorschlägen derGroßen Drei, Sprit effizienter zu nutzen oderHybridmodelle zu bauen, lässt sich kaum einDreirad gewinnen. Ingenieure, die in derLage sind, Satelliten zu bauen, die vom Welt-raum aus Nummernschilder lesen, werden eswohl auch schaffen, Alternativen zum Ben-zinmotor zu entwickeln.

Fabriken können umgerüstet werden füralternativen Einsatz von Energien: Windtur-

aufpassen, dass das Geld der Steuerzahlerauch für die Steuerzahler arbeitet, sollten aufjeden Fall auch Autoarbeiter sein.

In der Wahlnacht legte Barack Obama seinenUnterstützerInnen ans Herz, sein Wahlsiegbedeute hauptsächlich die Chance für uns,(selbst) für den gewünschten Wandel zu sor-gen. Damit hat er uns aufgefordert, eine akti-ve Rolle beim Umbau des Landes zu spielen.

Das haben Arbeiter schon einmal getan.Die aktuelle Wirtschaftskrise wird oft mitden 1930er Jahren verglichen, als Fabrikar-beiter ihre Angelegenheiten selbst in dieHand nahmen. Damals sah die UAW-Füh-rung die Gewerkschaft als Teil einer größerenAnstrengung, sich den Problemen zu stellen.Dahin müssen wir zurückfinden – zu dieserMentalität von Mut, Phantasie, Gemein-schaft und Solidarität: »An Injury to One isan Injury to All« (»Ein Schaden für einen istein Schaden für alle«).

* Jane Slaughter ist Mitgründerin der US-Zeitschrift LaborNotes, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikatio-nen zu Fragen der Gewerkschaftsbewegung und hat zuletztdas Troublemaker’s Handbook II veröffentlicht

Quelle: Labor Notes 1/2009Übersetzung: Anne Scheidhauer

Anmerkung:1) Medicare nennt sich die gesetzlich verankerte, beitrags-

und steuerfinanzierte Krankenversicherung insbesonderefür RentnerInnen und Behinderte; Anm. d. Red.

binen, Solarenenergie. Beim Kampf umunsere Arbeitsplätze können wir uns nichterlauben, den Kampf um den Planeten zuvergessen. Die Welt erwärmt sich immer wei-ter; und dies ist unsere Chance, mit unsererFixierung aufs Öl zu brechen, bevor es zuspät ist.

2.Die Unternehmen in allen anderenindustrialisierten Ländern haben den

Vorteil staatlicher Versorgungssysteme. Gene-ral Motors funktioniert heute wie ein priva-ter Wohlfahrtsstaat und bezahlt jährlich fünfMrd. USD für die Gesundheitsversorgungvon einer Mio. Menschen – Arbeitern, Rent-nern und ihren Familien.

Eine allgemeine, staatlich verwaltete Kran-kenversicherung für alle im Stil von Medi-care1 könnte dem Unternehmen diese Lastnehmen und auch 47 Mio. heute nicht kran-kenversicherten US-BürgerInnen zugutekommen. Damit könnte das Land immerhin350 Mrd. USD einsparen, die heute jährlichan die Versicherungsunternehmen fließen,damit sie Papierkram herumschieben undAnsprüche verweigern.

Nach Angaben der Zeitschrift HealthAffairs wäre die Hälfte der privaten Konkursevermeidbar, wenn die Betroffenen eine Kran-kenversicherung hätten. Außerdem würdediese den Konsumenten mehr Geld in denTaschen lassen und damit die Wirtschaft sti-mulieren.

3.Die Arbeiterbewegung sollte sich ver-eint weiteren Lohnkürzungen bei

Autobeschäftigten entgegenstellen. LetztesJahr hat die Gewerkschaft den Einstiegslohnauf 14,50 USD halbiert. Dreißig Jahre langhaben sich die Politiker der Wallstreetgebeugt, während die Löhne stagnierten. Bis-her konnten Gewerkschaftsmitglieder beiden Großen Drei ihren Lebensstandard bes-ser wahren als die meisten anderen – undwerden nun wie Schmarotzer behandelt. Sindwir in diesem Land, in dem sich die Invest-mentbanker Ende 2007 Boni in Höhe vonüber 30 Mrd. USD genehmigt haben, schonso verdreht, dass wir glauben, Beschäftigtemit einem Jahresgehalt von 58 000 USD sei-en das Problem?

Was bisher gefehlt hat, ist der Wille zumgrundlegenden Wandel. Die US-Autobauerbrauchen neben der finanziellen Unterstüt-zung eine echte Kontrolle aus Washington –nicht nur die Überwachung einer Intensivie-rung des ewig Gleichen durch den sogenannten Auto-Zar (»car czar«, siehe neben-stehenden Kasten). Unter denen, die darauf

Kein Beschäftigten-Bashing!Jane Slaughter* über Chancen in der Krise der US-Autoindustrie

Zaren-WirtschaftIm Dezember hatte der Kongress auf Initiative derDemokraten die Einrichtung eines Fonds in Höhevon zunächst 14 Mrd. USD vorgeschlagen, ausdem die Autounternehmen Notdarlehen erhaltensollten; dieser Fonds wurde dann erhöht auf 17Mrd. USD. Bush hatte seine Zusage an die Ein-setzung eines »Auto-Zaren« gekoppelt, der dieVergabe der Gelder kontrollieren und auf dieErgreifung von »Restrukturierungsmaßnahmen«hinwirken soll. Letztere sollen die Autounterneh-men »in Kooperation« mit Gewerkschaften undZulieferern bis spätestens zum Frühjahr ent-wickeln und vorlegen. Die Restrukturierungsmaß-nahmen schließen auch flexible Notvereinbarun-gen (»quick Deals«) mit den Gewerkschaften jen-seits der regulären Tarifrunden ein. Umstritten istdie Einsetzung des »Auto-Zaren«, mit der auchObama liebäugelt, weil der »Car Czar« für dieeinen zu viel, für die anderen zu wenig Kompe-tenzen und Sanktionsmöglichkeiten erhält. Sosahen einige Republikaner sowie Vertreter derIndustrie darin bereits die Gefahr der Einführung»sozialistischer Planung«.

Red.

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