BÜCHER-FASS 2019 · 2019. 11. 29. · umpflügte. Kunst, Mode, Lifestyle, Fotografe, Architektur...

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BÜCHER-FASS WEIHNACHTSBRIEF 2019 INHALT Lyrik 3 Coffe Table Books 5 Klassiker 9 Es sind nicht die Erbsenzähler, die die Welt verändern 10 Vom Leben auf dem Land 12 Von Afrikas Geistern 16 Und wieder einmal Hölderlin 18 Leuchtendes dunkles Mittelalter 19 Die Caudillos und die Literatur 22 Die Maske des Agamemnon 23

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BÜCHER-FASSW E I H N AC H T S B R I E F

2019

INHALT

Lyrik 3 Coffe Table Books 5Klassiker 9Es sind nicht die Erbsenzähler, die die Welt verändern 10Vom Leben auf dem Land 12Von Afrikas Geistern 16Und wieder einmal Hölderlin 18Leuchtendes dunkles Mittelalter 19Die Caudillos und die Literatur 22Die Maske des Agamemnon 23

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L A D E N Ö F F N U N G S Z E I T E N im Dezember/Januar:

Sonntag, 15. Dezember: 11 – 17 Uhr

Sonntag, 22. Dezember: 11 – 17 Uhr

Montag, 23. Dezember: 8.30 – 18.30 Uhr

Dienstag, 24. Dezember: 8.30 – 16 Uhr

27., 28., 30. Dezember: normale Öffnungs-

zeiten

Dienstag, 31. Dezember: 8.30 – 16 Uhr

Ab 3. Januar wieder normale Öffnungszeiten.

Samstag, 11. Januar 2020: wegen Inventur

geschlossen

WEIHNACHTSBRIEF 2019

Buchhandlung Bücher-Fass Webergasse 13, 8201 SchaffhausenTel. 052 624 52 33 | [email protected]

Texte: Georg FreivogelGestaltung: richtigundschön.ch, Silvia Bartholdi

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Ein jedes Ding hat seine Zeit

Ich bin nicht hinter die Bücher gegangen, doch es wird an-fangs April oder anfangs Mai gewesen sein. An das Jahr hingegen mag ich mich gut erinnern, weil eine s/w-Foto-grafie von Rolf Baumann – sie zeigt eine grosse Kamel- herde im Wüstenstaub – vor mir auf dem Schreibtisch steht: «Nov. 96 • Die Kamele sind gegangen, die Erinnerung bleibt!». In diesem Jahr hat Ursula Stamm ihre Lehrzeit im Bücher-Fass begonnen, und im Juni, zur Freude Ursulas, aber nicht ihretwegen, rauchte ich meine letzte Zigarette, und das Bücher-Fass, einst eine Räucherhöhle, wurde zur raucherfreien Zone. 1998 schloss Ursula im Rang ab und ich fragte sie, ob sie weiterhin im Bücher-Fass arbeiten möchte. Mit Handschlag besiegelten wir den Vertrag; das stellt im Bücher-Fass übrigens keine Ausnahme dar, alle Arbeitsverträge sind mündlich abgeschlossen, und den Zahltag erhalten alle Ende des Monats bar auf die Hand. Und genau so, mündlich eben, eröffnete mir Ursula im vergangenen Juni, dass sie das Bücher-Fass auf Ende die-ses Jahres verlassen werde. Ihre Gründe kenne ich nicht im Detail, doch neben familiären Verpflichtungen und kul-turellen Engagements in der Ukraine etwa, mögen gewiss auch Gründe vorliegen, die mit der Buchhandlung und ihrer Zukunft zu tun haben. Der 31. Oktober 2021 rückt näher, das Datum, an dem ich für das Bücher-Fass ent-weder eine Nachfolgelösung gefunden habe oder aber die Buchhandlung schliessen werde.

Ich danke Ursula Stamm herzlich für ihren unermüd-lichen und stets verlässlichen Einsatz; sie hat viel dazu bei-getragen, dass unser Bücherschiff in den zuweilen heftigen Stürmen vor fünfzehn Jahren nicht gekentert ist. Sie hat auch meinen oft anachronistisch patriarchalischen Führungsstil aushalten müssen. Ich wünsche ihr auf ihrem weiteren Weg viel Freude, Erfüllung und Glück. Unsere Karawanen ziehen weiter, die Freundschaft bleibt.

Danken möchte ich natürlich auch Gabriele Meier, Iris Papke und Matthias Felix und nicht vergessen möchte ich die Springereinsätze von Martina Cucinotta, Jeanette Bergner, Luzi Schucan und Silvia Bartholdi, die jeweils unseren Weihnachtbrief schön gestaltet.

Im kommenden Jahr werde ich Januar und Februar die Stunden von Ursula übernehmen, bin also für zwei Monate von Montag bis Samstag im Laden anzutreffen. Ab März wird dann Iris Papke das bisherige Pensum von Ursula übernehmen.

Last but not least danke ich Ihnen für Ihre Verbundenheit mit dem Bücher-Fass und wir alle wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute im kommenden Jahr.

HerzlichGeorg Freivogel

Ankündigung Lesung Vor zwei Jahren stellte die junge Luna Al-Mousli im Bücher-Fass ihr erstes Buch Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus. vor.

Am 21. Januar wird Luna wieder im Bücher-Fass zu Gast sein und ihr zweites Bändchen vorstellen:Als Oma, Gott und Britney sich im Wohnzimmer trafen oder der Islam und ich.

Dienstag, 21. Januar 2020, 19 Uhr, Bücher-Fass, 1. Stock; Eintritt Fr. 10.–

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Diese zwei vereint mehr als man gemeinhin vermutet. Beide gelten im Buchhandel als schwer verkäufliche Luxusgüter. Beide erscheinen oft in kleinen Auflagen, werden von vielen Kunden als teuer wahrgenommen und sprechen kein Massenpublikum an. Und noch etwas teilen sich die zwei: Oft huscht der Blick schneller über die Seiten, als dass unser Ge-hirn die Inhalte wirklich aufnehmen und angemessen verarbeiten kann. Oder, mit andern Worten: Beide fordern vom Leser oder Betrachter mehr Zeit, als er oder sie glaubt für ein Buch zur Verfügung zu haben. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um ein Paradoxon: Wie kann es sein, dass wenig Buchstaben oder einige Bilder mehr Zeit verlangen, als man der Lektüre eines Romans zugesteht? Und so kann es vorkommen, dass ein Lyrikband auf einem Coffee Table liegt oder ein opulenter Bildband und beide erheischen vom fremden Betrachter dasselbe Urteil: Hier muss ein Connaisseur zu Hause sein. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht wirklich streiten und literarische Qualität ist immer schwieriger auszuloten. Jede und jeder nimmt je länger je mehr die eigenen Massstäbe zur Hand und erklärt mit zunehmend grosser Selbstverständlichkeit diese als objektiv: Wir leben zusehends in einer Welt von individuellen Meinungen, die sich als Wahr-heit ausgeben. So bitte ich Sie, die folgenden Buchtipps als persönliche Lektüre- empfehlungen zu betrachten. Festhalten möchte ich trotzdem: Bücher, denen ich viele Leserinnen und Leser wünsche, gehören für mich – in Anlehnung an ein Bonmot von Felix Graf – nicht in eine Abstellkammer für Wohlbekanntes, sondern sind stets Ausgangspunkt für Neues.

Der Gedichtband und das Coffe Table Book

Lyrik1956 erscheint im Ernst Piper Verlag ein schmaler Gedichtband, der einen noch heute von den ersten Verszeilen an mitreisst:

Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floss

und fahren den Himmel hinunter?

Mein lieber Bruder, bald ist die Fracht zu gross

und wir gehen unter.

Mit Anrufung des Grossen Bären ist Ingeborg Bachmann auch ohne Nobel-Preis im Olymp der Literatur ein Plätzchen sicher und uns Irdischen eine Handvoll Gedichte, die in Erinnerung bleiben. Warum ausgerechnet dieser Tipp? Kürzlich suchte eine Kundin ein Gedicht, von dem sie nur vage in Erinnerung hatte, dass es von Ingeborg Bachmann sei. Wir schauten uns dann die ebenfalls nicht umfangreiche Ausgabe der Sämtliche Gedichte an; zwar fanden wir die gesuchten Verse nicht, doch was wir wieder gefunden haben, liess uns beide beeindruckt zurück.

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Dass Gedichte einen auch aufs Glatteis führen können, erfuhr ich, als ich einer anderen, der Lyrik wohlgesonnenen Kundin die schön gestaltete Neuausgabe eines lange vergriffenen und antiquarisch sehr gesuchten Bandes zur Prüfung in die Hand gab: Unterwegs/In viadi. Die früh verstorbene Bündnerin Luisa Famos (1930 – 1974) aus Ramosch im Unterengadin gehört zu meinen Lieblingslyrikerinnen. Unsere geschätzte Kundin hingegen meinte nach kurzer Prüfung, dass es gewiss nette Verse seien, doch keine Gedichte, die sie besonders interes-sierten. Zugegeben, sie kommen schlicht daher, berühren unbewusst – mich zumindest –, tauchen ab in einen tiefer gelegenen Gedächtnisraum und lagern dort unverdaut, bis sie irgendwann wieder plötzlich klar ins Bewusstsein stossen.

Alle Sterne

des Firmaments

sind

wie Blätter des Herbsts

in meine Arme gefallen.

Wind des hellichten Tags

wo hast du sie hin

verjagt?

Eva Maria Leuenberger ist 28 Jahre alt, lebt in Biel und legt mit dekarnation einen beeindruckenden Gedichtzyklus vor. Im Gegen-satz zu traditionellen Lyriksammlungen legt die Autorin aber eine Art von Langgedicht vor, eine bildstarke Erzählung in gebundener Sprache, die sie in die Kapitel «tal, moor, schlucht, tal» gliedert. Thema sind die Natur und Naturgewalten und als Intermezzi der Mensch als vergäng-liches Puzzlestück.

Ein fluss auf roher erde

zeichnet eine grenze

zwischen zwei körpern aus stein

frisst eine schlucht

zermalmt den stein

Ingeborg Bachmann: Anrufung des Grossen Bären. Gedichte. Piper Fr. 11.90Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte. Piper, Fr. 16.–Luisa Famos: Poesias/Gedichte. Übersetzt von Anna Kurth und Jürg Amann,Arche; vergriffenLuisa Famos: Unterwegs/In Viadi. Übersetzt von Luzius Keller, Limmat, Fr. 29.–Eva Maria Leuenberger: dekarnation. Gedichte. Droschl, Fr. 26.–

Foto © Anja Fonseka

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sind bereits ausverkauft; für die Normalausgabe mit num-merierten 918 Exemplaren, auch sie von seiner Heiligkeit Dalai Lama einzeln handsigniert, sind immer noch 12’000 Schweizer Franken auf den Tisch zu blättern – bedeutend mehr als eine vierwöchige Privatreise in den Tibet kostet.

Doch nun zu den Tipps. Von Olivier Föllmi, geboren 1957 in Saint-Julien-en- Genevois, Frankreich, erschien 1990 bei Nathan, Paris, der für mich beeindruckendste Bildband, den ich kenne: Der zugefrorene Fluss. Die Täler in Zanskar sind in den Wintermonaten zugeschneit, und nur durch die Schlucht des Zanskar-Flusses, der im Winter Tchadar («der zugefro-rene Fluss») heisst, ist Leh in Ladakh zu erreichen. Olivier und Danielle Föllmi dokumentieren in Text und unglaublich starken Bildern die 150 Kilometer lange Reise, die ein Dutzend Zanskari, unter ihnen zwei schulpflichtige Kinder, auf sich nehmen, damit Motup und Diskit in Leh die Schule besuchen können. Seit bald nun dreissig Jahren begleiten mich diese Bilder und sie erinnern mich immer wieder, in welch privilegierte Welt wir hier geboren wur-den, und führen mir immer wieder vor Augen, dass un-ser nicht seltenes Klagen und häufiger noch unbedachtes Fordern nach noch mehr eine obszöne Ausgeburt unseres Wohlstandes ist. Der Band berührt und packt einen eben gerade deswegen, weil es sich bei dieser Reise nicht um ein Extremsportlerabenteuer handelte, sondern damals nur um den zwar äusserst gefährlichen Schulweg der beiden Kinder und ihrer Begleiter.

Von Olivier Föllmi und Jean-Marie Hullot ist dieses Jahr ein neuer Bildband erschienen: Kailash. Eine Pilgerreise in das Herz der weissen Wolke. Der Titel des Buches ist etwas irreführend, da der Band über eine Tibetreise der beiden berichtet, wo der heilige Berg Kailash ebenfalls auf

Coffee Table BooksErkundigt man sich, wie mittlerweile üblich und selbst-verständlich, bei Herrn Google oder Frau Wikipedia über das, wovon man keine Ahnung hat, dann erfährt man, dass Coffee Table Books Bildbände mit meist wenig Text sind, die gerne auch auf Beistelltischchen aufgelegt werden. Vor vierzig, fünfzig Jahren nannte man diese Bücher Bildbände und man verstand darunter ein Sachbuch, das mit quali-tativ hochwertigem Bildmaterial illustriert war. In meiner Bibliothek zuhause steht zum Beispiel ein Bildband über Isfahan, wo ich über den persischen Städtebau, die Urba-nisierung oder über architektonische Details von Baudenk-mälern mehr erfahre als in heute greifbaren Büchern; oder ich blättere oder lese in einem ebenfalls schon längst vergrif-fenen Bildband mehr über die Salzkarawanen in der Sahara und mache dieselben Erfahrungen wie im Persienband.

Das Coffee Table Book fasziniert heute in erster Linie durch das Bildmaterial; der Text spielt eine marginale Rolle. Ich vermute, dass das daran liegt, dass sich heute vor allem Fotografen an die Enden der Welt wagen und nicht mehr die universell gebildeten Entdeckungsreisenden. Trotzdem möchte ich eine Lanze für einige ausgewählte Coffee Table Books brechen, da einige von ihnen auch in drei oder vier Jahrzehnten noch Informationen enthalten, die dannzumal verschwunden sein werden.

Benedikt Taschen gründete 1980 einen Verlag, der die Welt der traditionellen Bildband-Verleger in nur wenigen Jahren umpflügte. Kunst, Mode, Lifestyle, Fotografe, Architektur waren die Themen, auflagenstark und deshalb preisgünstig, weil mehrsprachig einsetzbar, die Titel. Die schiere Masse brachte aber mit den Jahren auch die Langeweile, und heute versucht der Verlag mit gewissen Büchern auf verita-ble Kunst zu setzen: Bücher als Geldanlage quasi. Das wird kaum aufgehen. Und in einigen Fällen ist das nicht nur elitär und schade, sondern schlicht auch ärgerlich. So bietet zum Beispiel Taschen einen Bildband über Murals of Tibet an – die ersten 40 Exemplare für lumpige 42’000 CHF; sie

Foto: © Olivier Föllmi/Knesebeck Verlag

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dem Programm stand. Der Unterschied zum knapp dreissig Jahre früher erschienenen Band ist allerdings frappant. Zwar sind die Fotos des neuen Buches von bestechender Qualität, was hingegen fehlt, ist die tiefe menschliche Dimen-sion des Zanskarbandes. Dafür den Autor und Fotografen verantwortlich zu machen, greift hingegen wahrscheinlich zu kurz; das Buch scheint mir vielmehr ein aktuelles Kind der Zeit zu sein: Tibet ist im 21. Jahrhundert angekom-men, Zanskar steckte im Bildband von 1990 noch im frühen 20. Jahrhundert. Dennoch, für alle, die kürzlich im Tibet waren oder für die Tibet ein unerreichbares Wunschreiseziel ist, ist Föllmis Kailash ein tolles Buch.

Der in den Vogesen aufgewachsene Vincent Munier (*1976) überrascht und beglückt einen nach dem phantastischen Arktisbildband Im eisigen Weiss, der dem Schnee, dem Eis, der Fauna des Nordens und speziell dem Polarwolf gewidmet ist, mit einem neuen sensationellen Band: Zwischen Fels und Eis. Wiederum begibt sich der Franzose auf Expedition, dieses Mal in den Tibet. Im un-wirtlichen, ja menschenfeindlichen Kunlun- Gebirge suchen er und sein Team den äusserst scheuen Schneeleoparden. Die Bildsprache des neuen Bandes folgt jener des Arktisbuches: Farblich wie bildausschnittmässig aufs Äusserste reduziert, gewinnt der Betrachter einen Ein-druck der unendlichen Weite – z.B., wenn man

Foto: © Olivier Föllmi/Knesebeck Verlag

das Tier auf der Foto nur winzig, andeutungs-weise als Silhouette, im weiten Weiss oder Grau wahrnehmen kann. Oder aber er zeigt ein Tier in Grossaufnahme wie ein Porträt und deutet dabei doch eindeutig sein natürliches Lebens- revier an. Dass Sylvain Tesson, der Co-Autor, im Begleitband nicht nur von modernem Reise- abenteurertum berichtet, sondern auch unmiss-verständlich auf die Repression des chinesischen Staates in Tibet hinweist, weil er diese selber, und noch vielmehr die tibetische Begleitcrew, erfahren hat, lässt den Band aus dem Strauss von Tibet-Bildbänden herausragen. Und wenn er zum Schluss seines Textes vermerkt: «Die Leidenschaft, die mich seit Langem beseelt, führt mich in eine Sackgasse. Im Grunde müsste ich freiwillig verzichten», dann liegt für mich die Qualität dieses Bandes ganz nahe bei Föllmis Der zugefrorene Fluss.

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Mit den drei nächsten Bänden verbleibe ich im hohen Norden, halte mich allerdings kurz, auch wenn eine ausführliche Würdigung angebracht wäre.

Francis Latreille und Eric Orsenna präsentieren in ihrem informativen und ansprechend illus-trierten Band Die letzten Nomaden der Arktis alle indigenen Völker rund um den nördlichen Polarkreis: die Nenzen, die Samen, die Inuits Grönlands und von Nunavut, die Tschuktschen, die Korjaken, die Jakute und die Dolganen. Der Band dokumentiert ihr Leben und ihre Kultur, verweist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Henrik Saxgren’s Band Ultima Thule be-schränkt sich ganz auf die Inuit im äussersten Norden Grönlands. Seinen Bildband halte ich ästhetisch für einen der besten Bildbände in jüngster Zeit. Die Fotos beschönigen nichts aus dem Jagdalltag dieser letzten Jäger und stossen deshalb wohl nicht wenige, auf dieser Klaviatur zart besaitete Zeitgenossen ab. Saxgren erzählt in aufwühlenden Bildern von Jägern, die nicht für Trophäen, sondern allein für ihren Lebensunterhalt töten. Und er zeigt ebenfalls, dass das Harpunieren eines Wals, das Schiessen einer Robbe oder eines Eis-bären im arktischen Klima für den indigenen Bewohner eine Lebensnotwendigkeit ist.

Beat Schweizer, 1982 in Burgdorf geboren, ist einer der erfolgreichsten, zumindest jedoch einer der wichtigsten Dokumentarfotografen der Schweiz. Beharrlich verfolgt er mit seiner Kamera gesetzte Ziele. Zum Beispiel Norilsk. Seit mehr als fünf Jahren reiste und besuchte

© Beat Schweizer

Der kleine Nenzenjunge Anton betrachtet und

streichelt das Mammutkalb Ljuba, das seit

39'000 Jahren im Permafrostboden tief-

gefroren und konserviert wurde. Es wurde nahe des

Flusses Juribei auf der Jamal-Halbinsel entdeckt.

Foto © Francis Latreille/Knesebeck Verlag

Schweizer die nördlichste Grossstadt der Welt – mit 175’000 Einwohner weit grösser als Winterthur, doch 300 Kilometer nördlich des Polarkreises gelegen. Dem Ende 2018 erschienenen Band Mikailovna called widmete «Das Magazin» des Tages-Anzeigers eine mehrseitige Reporta-ge, die Nachfrage im Buchhandel blieb jedoch bescheiden. Schweizers Bilder zeigen den Alltag in drei russischen Städten, die als Tourismus-destinationen im besten Fall die letzten drei Plätze belegen würden. Und trotzdem erzäh-len Schweizers Fotografien Geschichten, die beim genauen Betrachten vermuten lassen, dass ein Leben, das sich die meisten bei uns kaum vorstellen können, vielleicht Glücksmomente birgt, von denen wir keine Ahnung haben. Ein eindrückliches Buch mit einem auch äusserst stimmungsvollen Text von Urs Mannhart, der vor zwei Jahren im Rahmen der Schaffhauser Buchwoche bei uns gelesen hat.

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Auch zu Johann Wolfgang von Goethe ist dieses Frühjahr ein aussergewöhnlicher Fotoband erschienen. Helmut Schlaiss, ein bis dato Unbekannter in der Welt der Bücher, traf bei einer Veranstaltung den Grosskritiker Denis Scheck und sprach ihn an. Er sei, meinte er zu Scheck, Goethes Reise nach Rom nachgegangen und habe die in der Italienischen Reise vermerkten Orte fotografiert. Schwarz-Weiss mit einer Leica M 1:2, 50 mm. Scheck winkte zuerst ab und dann, nach einem zweiten Blick, zu. Entstanden ist so ein Bildband zu Goethes Reise, der auch die entsprechenden Textpassagen versammelt. Ein Reise- tagebuch übrigens, das berühmteste deutscher Sprache, das sich heute noch zu lesen lohnt. Nicht, weil es aktuell ist, sondern weil es die gewaltigen Unterschiede zwischen da-mals und heute in Bezug auf Mentalität und Kultur, in der Art des Reisens und Sehens und – nicht zuletzt – auch im Gebrauch und Umgang mit der Sprache offenbart.

Tsum Glück letztlich ist kein Buch in Mundart, sondern ein erster Bildband über das Tsum-Tal in Nepal; ein Tal, ein Landstrich, der erst seit 2008 für Ausländer zugänglich ist, und ein Tal, wo das Glück noch mit Händen zu greifen sei, auch wenn das Leben dort karg ist. Der Handel über die hohen Pässe nach Tibet boome zwar, und ich frage mich, wie lange das beschworene Karge noch Bestand haben wird. Sollten Sie jedoch eine Reise nach Mustang in Erwägung ziehen, so scheint mir das Tsum-Tal zum Glück eine gute Alternative.

Olivier Föllmi: Der zugefrorene Fluss; Nathan, vergriffen; wenige Exemplare antquarisch erhältlich, ab ca. Fr. 130.–Olivier Föllmi: Kailash. Eine Pilgerreise in das Herz der weissen Wolke; Knesebeck, Fr. 52.90Vincent Munier: Im eisigen Weiss; Knesebeck, vergriffen; zwei Exemplare zur Zeit antiquarisch erhältlich, ab Fr. 190.–Vincent Munier/ Sylvain Tesson: Zwischen Fels und Eis. Auf den Spuren der letzten Schneeleoparden in Tibet; Knesebeck, Fr. 107.–Francis Latreille/Eric Orsenna: Die letzten Nomaden der Arktis; Knesebeck, Fr. 49.90Henrik Saxgren: Ultima Thule; Hatje/Cantz, Fr. 99.– (wahrscheinlich bald vergriffen)Beat Schweizer: Mikhailova calls; Kehrer, Fr. 48.70Helmut Schlaiss/Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise. Manesse, Fr. 68.60Enno Kapitza: Tsum Glück. Ein entlegenes Tal im Himalaya; Sieveking, Fr. 69.–Henri Stierlin: Isfahan. Spiegel des Paradieses; Atlantis (1976), vergriffen; antiquarisch wenige Exemplare greifbar, ab ca. Fr. 140.–Hans Ritter: Salzkarawanen in der Sahara; Atlantis (1982), vergriffen, antiquarische Exemplare ab ca. Fr. 25.–

Foto: © Enno Kapitza/Agentur Focus 2018

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Was man – auch im Alter – immer wieder gerne liest: Klassiker

Wer aufbricht zu neuen Zielen in jungen Jahren, braucht Klassiker nicht: Man möchte die Welt ohne den Ballast der Vergangenheit anpacken. Und das ist gut so. Ein Stück weit zumindest oder so weit, als dass die Konsequenzen dieses wichtigen individuellen Weges reflektiert sind. Kann man aus Klassikern der Literatur also ler-nen? In gewissem Sinne ja. Lässt sich ein Text aus dem Literaturkanon in einen Zusammen-hang mit der eigenen Lebenssituation bringen, dann leben auch die Klassiker wieder auf und bringen Farbe in unseren Alltag.

Es ist erfreulich, dass Bücher des vorvergan-genen oder vergangenen Jahrhunderts wieder neuaufgelegt oder neu übersetzt werden. Zwei Neuübersetzungen des – gemäss Literatur- kritik – wichtigsten Werkes der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts buhlen um die Gunst eines doch nicht allzu zahlreichen deutschsprachigen Publikums: Middlemarch von George Eliot, eigentlich Mary Ann Evans (1819–1880). Sie publizierte den Roman unter einem männlichen Pseudonym, weil sie be-fürchtete, als Autorin nicht beachtet zu werden. Ich hatte den Roman zuvor nie gelesen und ich habe auch von den neuen Überset-zungen nur jeweils das erste Kapitel gelesen. Mir scheint intuitiv die Übersetzung von Rainer Zerbst wörtlicher am Original zu lie-gen; die Übersetzung von Melanie Walz dünkt mich jedoch moderner, etwas lesefreundlicher oder anders gesagt: sie entspricht mehr meiner Lesart. Dann kommt ein ausserliterarisches Moment dazu: Die Umschlaggestaltung der Rowohlt-Ausgabe spricht mich mehr an. Wo-rum geht es in diesem monumentalen Roman? Zeitlich angesiedelt ist der Roman ums Jahr 1830 in einer fiktiven englischen Provinzstadt: Middlemarch. Vier verschiedene Handlungs-

George Eliot: Middlemarch, Roman, – übersetzt von Rainer Zerbst, dtv, geb. Fr. 38.90 – übersetzt von Melanie Walz, geb. Rowohlt, Fr. 59.60Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Hrsg. von Kurt Pinthus, geb. Rowohlt, Fr. 46.90

stränge lassen ein Zeitbild entstehen, das die Themenkreise Liebe, menschliche Beziehungen im allgemeinen, Intrigen und das Individuum in der Gesellschaft einschliessen. Die Autorin flicht in ihren Text auch aktuelle Ereignisse ein wie zum Beispiel den Bau von Eisenbahnlinien, ein neues Wahlgesetz oder den Tod von König George IV. und die Nachfolge seines Bruders.

1919 erschien eine der erfolgreichsten deutschen Lyrikanthologien: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, herausgege-ben von Kurt Pinthus. Sie versammelt zumeist expressionistische Gedichte von heute noch bekannten, aber auch von längst vergessenen Autorinnen und Autoren. Die Sammlung ver-mag auch heute noch zu faszinieren, ist sie doch eine der wenigen zeitgenössischen Anthologien, die über den Tag hinaus die Stimmung eines Zeitalters exemplarisch festhalten.

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Google und Wikipedia können vieles, was man aber mit diesen vermeintlichen Alleskönnern nicht zustande bringt, ist ein Buch, wie es Hans Magnus Enzensberger mit seiner Experten-Revue in 89 Nummern vorlegt oder eben auch wie dies Mathilda Masters (Text) und Louize Perdieus (Illustationen) mit 321 superschlaue Dinge, die du über Tiere wissen musst tun: Die Auswahl treffen Menschen, und nach deren Wissen und Können erhalten die inhalt-lichen Schwerpunkte ihre eigene Färbung. Das Tierbuch würde ich als Familienbuch einschätzen, ein Buch, das sich vergnüglich und mit Gewinn ab etwa 10 Jahren lesen lässt, und dies solange man lebt. Da erfährt man zum Beispiel, wie viele Liter Wasser eine Auster pro Tag filtert und wie das funktioniert; oder wie es kommt, dass in Austern Perlen wachsen. Man erfährt auch etwas über den Marderbär, der in Südostasien heimisch ist und über den auch Bruno Manser berichtet. Der Basler Ethnologe weiss über diesen ursprünglich als Kleinbären identifizierten zumeist vegetarischen Räuber, der in Wirk-lichkeit jedoch zur Familie der Schleichkatzen gehört, mehr Mythologisches, das er von den Penan erzählt bekommt, als zoologische Fakten. So rundet sich unser Wissen zu einem grösseren Ganzen.

Man vermutet, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts rund 5 Milliarden Wandertauben den nordamerikanischen Kon-tinent bevölkerten. Sie nisteten in riesigen Kolonien im Nordosten der USA und zogen oft in einem Schleifwander-zug südwestwärts und wieder zurück zu den grossen Seen. Aldo Leopold wurde 1887 in Burlington, Iowa, geboren. Ob er noch Wandertauben im Flug hat beobachten können, weiss ich nicht, möglich allerdings wäre es: Am 24. März 1900 soll angeblich der letzte wildlebende Vogel geschossen worden sein. Von 1909–1928 arbeitete Leopold für den US Forest Service; 1923 formulierte er eine Ethik der Nachhal-tigkeit, 1924 wurde auf sein Drängen hin das erste nationale Wildnisgebiet gegründet. 1935 fuhr er mit einem Freund durch die Baraboo Hills im Sand County, einem Ausläufer von Wisconsins zentraler Sandebene; dort, nahe dem Fluss, entdeckte er ein niedergebranntes Farmhaus und daneben einen noch intakten Hühnerstall. Hier nimmt ein Buch mit naturkundlichen Beobach-tungen und Reflexionen den Anfang, das 1949, ein Jahr nach seinem Tod, erschienen ist: A Sand County Almanac. Die Texte, die sich im Jahreslauf von Januar bis Dezember gliedern, wurden von den Medien gut aufgenommen, doch erst ab Mitte der sechziger Jahre, im Windschatten zuerst von Rachel Carsons Silent Spring avancierte das Buch in den USA zu einem immer noch oft gelesenen Klassiker des Nature Writings. In der von Judith Schalansky herausge-gebenen Reihe NATURKUNDEN erschien nun das auch schön gestaltete Buch, das einen entfernt etwas an Thoreaus Walden erinnern mag, auch auf Deutsch. Den nun schon seit über hundert Jahren ausgestorbenen Wandertauben widmet Leopold einen kleinen Nachruf und es bleibt zu hoffen, dass es der Turteltaube nicht gleich ergehen wird – lesen Sie dazu den schönen, eleganten Text von Daniele Muscionico in der NZZ vom 25. Oktober 2019.

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Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern. Mit einem Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen: Vom Dämon der Arbeitsteilung. Suhrkamp Verlag, ca. Fr. 33.–Mathilda Master/Louize Perdieus: 321 Superschlaue Dinge, die du über Tiere wissen musst. Hanser, ca. Fr. 30.50Aldo Leopold: Ein Jahr im Sand County. Naturkunden No. 58, Matthes & Seitz, ca. Fr. 42.–Ernst F. Schumacher: Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Mass. oekom Verlag, ca. Fr. 30.–Jill Lepore: Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. C.H. Beck, ca. Fr. 52.90Rachel Carson: Der stumme Frühling. C.H. Beck, ca. Fr. 23.50

Als ich zwischen 1971 und 1974 in Winterthur meine Buch-händlerlehre absolvierte, wurde noch ein Fach Wissen- schaftskunde unterrichtet. Da lernte man, wie früher in der Briefträgergeografie, nicht nur die Fachtermini der ver-schiedensten Wissenschaftsrichtungen, sondern dazu noch die damals wichtigen Referenzwerke. Bei dem damals schon aktuellen, doch noch jungen Wissenschaftszweig Ökologie wurde uns das 1963 auf Deutsch erschienene, oben schon erwähnte Buch von Rachel Carson als wichtigstes Buch mit auf den Weg gegeben. Der C.H. Beck Verlag legt den Grundlagentext jetzt mit einem Vorwort der renommierten Historikerin Jill Lepore wieder neu auf. Das Spannende an diesem Text ist die universelle Sicht der ursprünglichen Meeresbiologin. Das Buch ist deshalb nicht veraltet, weil es nicht mit tagesaktuellen wissenschaft-lichen Erkenntnissen aufwartet, sondern einfach nur öko-logische Zusammenhänge aufdeckt – aus dem natürlichen Kreislauf, dem auch der Mensch unterworfen ist, gibt es kein individuelles Ausscheren, ohne dass dies Auswir-kungen auf das gesamte System hat. Das scheint uns auf den ersten Blick banal zu sein, allerdings zeigt nur schon die Frage um den Klimawandel heute, dass dem in keiner Weise so ist. Carsons Buch hatte zur Folge, dass das auch im natürlichen Kreislauf noch äusserst giftige DDT bald darauf weltweit verboten wurde. Ein tolles Buch, das sich liest wie ein Roman und lange nachwirkt: Es sind nicht die Erbsenzähler, die die Welt verändern.

1972 wurde an der HSG St. Gallen an einem Symposium der Bericht des Club of Rome vorgestellt, der bald danach als Buch mit dem Titel Die Grenzen des Wachstums erschienen ist. Das Team um Dennis Meadows stellte die These auf, «dass das aktuelle individuelle lokale Handeln aller globale Auswirkungen hat, die jedoch nicht dem Zeit-horizont und Handlungsraum der Einzelnen entsprechen». (Wikipedia) Das Buch ist seit langem vergriffen, doch die These stimmt eigentlich ja noch immer. Ein Jahr später publizierte der britische Ökonom Ernst F. Schumacher sein Buch Small is beautiful. A Study of Economics as if

People Mattered; auf Deutsch erschien das Buch 1977 unter dem Titel Die Rückkehr zum menschlichen Mass. Das Buch hatte in den 70er-Jahren Kultstatus im Lager der Grünen, nicht aber bei allen anderen. Selbst unter den Sozialdemokraten gab es die Ansicht, dass ihre Forderung nicht sei, dass jeder einen VW besitze, sondern jeder einen Mercedes fahren könne – auf jeden Fall jedoch hielten, und halten noch immer, auch sie am Wirtschaftswachstum fest, das als unumgänglicher Motor von Fortschritt, Gerechtig-keit und Frieden gilt. Schumachers Buch wurde diesen Herbst wieder neu aufgelegt. Gewiss, der gebürtige Deutsche argumentiert zu-weilen mit der Moralkeule, doch sollte man heute so weit sein, seine Ansichten nicht gleich eins zu eins zu beurteilen. Dass seine Thesen im Kern allerdings so richtig sind wie vor bald fünfzig Jahren, das müsste eigentlich auch die jungen KämpferInnen für eine neue Klimapolitik dringendst inte-ressieren.

Sowohl Carsons wie Schumachers Buch markieren auch einen Kulminations- und zugleich Wendepunkt im politi-schen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs: Grundsatzfragen sind stets offen und nur ohne Denkbarri-eren und Sicherheitsnetz möglich. Dort, wo man materiell satt ist, stellt man tendenziell solche nicht mehr; man ver-legt sich vielmehr auf genauere Analysen, um so allfällige Fehlentwicklungen zu korrigieren, ohne sie von Grund auf zu hinterfragen.

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Vom Leben auf dem Land

Wer sich für Kunst, Literatur, Musik, Theater, kurz: wer sich für künstlerisches Arbeiten und Schaffen interessiert, informiert sich bis heute noch am besten im Feuilleton der Presse. Wer im Wettbewerb zwischen den globalen, mächtigen Anbietern wie Amazon, Alibaba, Zalando & Co. und dem lokal verankerten Han- del und Gewerbe letztere berücksichtigt, findet in der Webergasse ein Quartier mit Charme und ein Angebot, von dem man als Tourist – aus San Francisco, Santiago de Chile, Buenos Aires, Athen oder sogar auch aus Peking – be-geistert berichten würde.

Seit Jahren kaufe ich mein Brot in Willis Brot-laden an der Kamorstrasse in Schaffhausen. Willi Winzeler bäckt für meinen Geschmack das beste Brot auf der nördlichen Hemisphäre. Seine leckeren Brote sind übrigens auch im neu eröffneten Laden PeperOhni, gleich neben dem Bücher-Fass, täglich frisch erhältlich. Willi Winzeler ist Landwirt aus Barzheim; die Gemeinde, hart an der Grenze zu Deutsch-land, ist heute ein Teil von Thayngen. Hin und wieder erkundige ich mich bei ihm über die Situation der Bauern; dann meistens, wenn in irgendeiner Zeitung über landwirtschaftliche Subventionen oder über die zu vielen Zucker-rüben und den Preiszerfall des Zuckers berich-tet wird. Mit schöner Regelmässigkeit erfahre ich dann von Willi Winzeler die Sicht und die Meinung des Landwirts. Und jedes Mal stelle ich fest, dass die im Bereich Landwirtschaft geltenden Regeln und Vorschriften wohl kom-plizierter sind als diejenigen des Baurechts: Ich verstehe eigentlich davon gar nichts, obwohl ich mich als gut informierten Zeitgenossen be-zeichnen würde.

Doch ich glaube immer besser zu verstehen, was ich früher dank meinem Grossvater nur geahnt habe: Bauern arbeiten unter Vorausset-zungen, die alle, die nicht im primären Sektor arbeiten, kaum nachvollziehen können. Sie sind in hohem Masse von der Natur abhängig und sie produzieren Güter, die ausnahmslos alle zum Leben benötigen. Ohne Bauern ist eine sesshafte Bevölkerung – und wohl auch kein Staat denkbar. Bauern stehen mit ihrer Arbeit und ihren Produkten zwangsläufig und immer noch dort, wo die menschliche Zivilisation vor Jahrtausenden ihren Aufschwung nahm. Land-wirte ticken anders. Dazu gibt es neben Welt-literatur aus dem 19. Jahrhundert – Gotthelf oder Turgenev etwa – auch packende Romane aus neuerer Zeit.

Als 1954 Meinrad Inglins Roman Urwang erschien, war der Kampf gegen das geplante – und dann auch gebaute – Kraftwerk Rheinau in vollem Gange. Gesamtschweizerisch und durch alle Parlamente wehrten sich damals Natur-schützer und Bauern gegen das Flusskraftwerk. Vergeblich. Erst 1962 befürwortete eine Mehr-heit der Schweizer Stimmberechtigten einen Verfassungsartikel zum Naturschutz. Doch nun zum Buch. Urwang ist ein fik-tives Bergtal in der Zentralschweiz. Eine Stau-mauer soll gebaut und das Tal geflutet werden. Fünf Familien, deren Höfe in Urwang liegen, wehren sich dagegen. Zwar kommt es zu einer gütlichen Einigung, dennoch werden einige unfreiwillig enteignet. Urwang ist noch heute ein spannend zu lesender Roman, der auch ne-ben dem Umweltaspekt bäuerlichen Alltag um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufleben lässt.

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Walter Kauer, 1935 in Bern geboren, kam 1987 bei einem Töffunfall ums Leben. Nach einer Ausbildung zum Heilpädagogen wechselte er zum Journalismus und publizierte dann in rascher Folge einige erfolgreiche sozial- und gesellschaftskritische Romane. In Spätholz, erstmals 1976 erschienen, erzählt er die Ge-schichte eines Tessiner Bauern, der an einem frühen Morgen mit dem Gewehr neben sich am Küchentisch sitzt und auf den Gerichtsvoll-zieher und dessen Gehilfen wartet, die seinen gewaltigen Nussbaum fällen sollen, da er einem reichen Villenbesitzer die Sicht auf den See ver-wehrt. Kauer gelang mit Spätholz ein grosser Wurf, der emotional überzeugend, wenn auch etwas plakativ aufzeigt, was passieren kann, wenn die Schere zwischen Arm und Reich sich öffnet. Spätholz war einer der grössten Ver-kaufserfolge in der Geschichte des Bücher-Fass’.

1979 erschien im Unionsverlag von Werner Wüthrich Vom Land. Berichte. Die Zeitun-gen berichteten damals über erzürnte Bauern, vor allem im Wallis, die tonnenweise Tomaten auf die Halde warfen und ebenso viele Apriko-sen in die Rhone schütteten; Milchschwemme, Butterberge, Hormonskandale erschütterten die Landwirtschaft. Die Berichterstattungen vermittelten im Ton, dass die Bauern zwar nicht ganz im Unrecht stünden, aber mit ihren Aktionen doch bei Weitem mehr Schaden als Nutzen erreichen würden. Werner Wüthrich, ein Bauernsohn aus dem Kanton Bern, der Theaterwissenschaften stu-diert hatte, wollte es dann etwas genauer wissen. Nach zahlreichen Gesprächen mit Bauern zeigt er in seinem Buch Vom Land. Berichte die Sicht der Betroffenen; eines Milchbauern etwa, dem das Kontingent oder die Subventionen ge-kürzt werden sollen. Wüthrich dröselt in seiner Geschichte den Problemkreislauf Milch derart auf, dass einem sturm werden kann im Kopf. Ein starkes Buch, das noch nichts an Aktualität verloren hat.

2014 gewann Michael Fehr mit einem Auszug aus dem ein Jahr später erschienenen Kurz-roman Simeliberg den Kelag-Preis in Klagen-furt. Das Buch machte Furore in den Schwei-zer Feuilletons und begeisterte die Kritiker vor allem durch die rhythmisierte Sprache. Es ist für mich ohne jeden Zweifel ein ganz aussergewöhnliches Buch und ich frage mich noch heute, weshalb es der Text nicht einmal in die Shortlist des Schweizer Buchpreises ge-bracht hat. Wenn ich allerdings den Fokus auf den Inhalt des schmalen Bandes richte, dann lichten sich diese persönlichen Nebelschwaden über dem beeindruckenden ästhetisch-künstle-rischem Aspekt: Protagonist ist ein bäuerlicher Aussenseiter, der mit Polizeigewalt aus dem Hof geholt werden muss. Das ist kein Thema für eine smarte urbane Leserschaft. Trotzdem, gerade auch für diese, ein tolles Buch.

Als vom 1953 geborenen, in Biel aufgewachse-nen Jean-Pierre Rochat 1986 im Zytglogge Verlag die Erzählung Hirt ohne Sterne er-schien, galt der junge Aussteiger aus dem Jura als Gegenpol zu denjenigen Autorinnen und Autoren, die man im Elfenbeinturm wähnte. In seinem ersten Buch schildert der Autor, der mit 17 Jahren die Mittelschulausbildung abge-brochen hatte, um Bauernknecht zu werden, sein erstes Jahr mit der Einsamkeit, den Tieren und Menschen auf den Juraweiden. Auch die-ser, heute vergriffene Band, der bei aller Härte des Hirtenlebens auch die Utopie einer leben-digen, hoffnungsvollen, ja gar frohen Zukunft herauf beschwörte – es könnte doch ein rich-tiges Leben geben im falschen – war ebenfalls eines der bestverkauften Bücher jener Zeit. Dieses Jahr ist von Rochat ein tieftrauriges Buch erschienen, ein niederschmetterndes, kaum aushaltbares und doch wahres: Nebel-streif. Der Autor schildert in seiner neuen Er-zählung den unaufhaltsamen Niedergang eines Kleinbauern; berichtet davon, wie der leutselige, geschniegelte Elias Schwarz im Festzelt, das im Garten des Bauern errichtet wurde und wo zur Feier des Tages Bratwürste und Bier kredenzt werden, dessen gesamte Fahrhabe konkursamt-lich versteigert. Was dabei im Gefühlshaushalt des Bauern abläuft, kann man sich bestens denken, er sei denn der Konkursverwalter.

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Zum Glück gibt’s aber auch Texte, die lebensprall und cool über das bäuerliche Leben erzählen, auch wenn da und dort Melancholie auf-schimmert. Im selben Jahr wie das oben erwähnte Buch von Michael Fehr ist auch Die Pürin von Noëmi Lerch erschienen. Wie Fehrs Buch erhielt auch dieser schmale Band hymnische Bespre-chungen – und tauchte auf keiner öffentlichen Liste des Schweizer Buch-preises auf. In ihrem immer wieder auch ergreifenden Buch erzählt die 1987 geborene Autorin Episoden aus dem Alltag einer Bäuerin und der ihr aushelfenden Ich-Erzählerin; sie erzählt von der grossen Liebe, vom rothaarigen Milo, vom Kater Mephisto und dem einbeinigen Raben, vom Berg, der unaufhaltsam zu Tale rutscht. Es ist trotz seiner nur 83 Seiten ein grosses, dichtes, magisches Buch, das lange nachhallt.

Bei Editions Zoë in Genf erschien 2013 vom Waadtländer Roland Buti der Roman Le milieu de l’horizon, der schon ein Jahr später unter dem treffenden Titel Das Flirren des Horizonts auf Deutsch in den Buchhandel kam. Der Roman spielt im Dürresommer 1976 in der Waadt, und es wird für den Bauern Sutter zu einem Sommer des Infernos. Es ist so trocken und heiss, dass die Kantonsregierung Militär anfordert, um das Land mit Wasser zu versorgen, für den abgelegenen Hof Sutters kommt je-doch die Hilfe zu spät: Die Küken in der neuen Güggelianlage überleben Hitze und Durst nicht. Eines Tages taucht auf dem Hof eine Fremde auf; Sutter merkt nicht, dass es die Geliebte seiner Frau ist, doch der et-was beschränkte Knecht Rudy ahnt, was im Schwange ist. Buti schildert plastisch und in wuchtigen Bildern das Entstehen einer neuen Welt im Untergang. Ab Mitte Januar 2020 wird die Verfilmung des Buches auch in Deutschschweizer Kinos zu sehen sein.

Illustrationen aus: «Nehmen Sie gefälligst Ihren Hund an die Leine!» von Lorena Paterlini

Meinrad Inglin: Urwang. Ammann/Limmat, Fr. 24.–Walter Kauer: Spätholz. Lenos Pocket, Fr. 18.90Roland Buti: Das Flirren am Horizont. Roman, Nagel & Kimche Fr. 26.90Noëmi Lerch: Die Pürin. Verlag die brotsuppe Fr. 24.–Jean-Pierre Rochat: Nebelstreif. Verlag die brotsuppe 25.– Jean-Pierre Rochat: Hirt ohne Sterne. Zytglogge, vergriffen und antiquarisch ziemlich gesucht, ab Fr. 30.–Ernst Burren: Chuegloggeglüt. Zytglogge Verlag Fr. 27.–Michael Fehr: Simeliberg. Der gesunde Menschversand, Fr. 27.–

Nehmen Sie gefälligst ihren Hund an die Leine! – das haben wohl viele von uns auch schon gedacht. Seit sechs Jahren verlässt Lorena Paterlini jeweils im Sommer das pulsierende Grossstadtleben und zieht auf die Alp Conterser Duranna im Prättigau. Sie wird dabei beglei-tet von 160 Stück Rindvieh, 13 Pferden, zwei Schafen, zwei Katzen, vier Hühnern und einem Hund. Sie schildert in ihrem Buch, das ihre Masterarbeit ist, einen Sommer auf der Alp. Man komme, schreibt sie im Vorwort, oft an seine Grenzen, lerne diese zu akzeptieren oder zu verschieben, je nachdem. Wenn man sie je-

doch meistere, dann habe dies Suchtpotential. Das Buch, in Handschrift mit lauter Gross-buchstaben geschrieben, träf illustriert, kommt einem auf den ersten Blick locker und harmlos entgegen. Liest man es allerdings genau, macht der vordergründig an ein Jugendbuch erinnern-de Text bemerkenswerte Tiefenbohrungen. Das Buch übrigens hat auch eine Mentorin und Patin, die vor vielen Jahren einmal in der Fass-Beiz gearbeitet hat: Nathalie Monachesi, die heute Dozentin an der Zürcher Hochschule für Künste ist. Das Bücher-Fass freut sich für sie und Lorena Paterlini.

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Dass Bauern oder zuweilen auch ihre Kühe, die Glocken tragen, nicht immer auf Gegenliebe stossen, davon erzählt der Solothurner Ernst Burren in seinem 1987 erschienenen und im-mer noch lieferbaren Buch Chuegloggeglüt. Ja, Sie stutzen, müssen zweimal den Titel lesen? Genau, das Buch ist in Mundart geschrieben und ein veritabler Geheimtipp. Lehrer Thierstein jagt zu später Stunde die Kühe von der ans Wohnquartier grenzenden Weide, weil ihn das Chuegloggeglüt auf die Palme bringt. Sein Nachbar erwacht darob, weil er das Glüt nicht mehr hört. Die beiden setzen sich erstmals seit 25 Jahren zusammen – und da kommt doch einiges zu Wort. Bei Christa Cotti’s Bohnenblühn holen wir uns täglich morgens den Kaffee, den besten, den Sie in Schaffhausen kriegen können. Das wissen auch immer mehr Frühaufste-herInnen. Bei Christa kriegen Sie auch die Gipfel, die, aus eigener Erfahrung, den unüber-troffenen Gipfeln der legendären Bäckerei Schill in Neuhausen, am nächsten kommen. Christa ist auch eine vortreffliche Brotbäckerin. Davon profitieren auch wir als BuchhändlerInnen, in-dem wir Christas Tipps weitergeben.

Lisa Eisenmann Frisk & Monica Eisenmann sind Profis. Die schwedischen Schwestern ha-ben schon einige Bücher zum Thema Essen & Kochen publiziert, zwei davon sind auch in deutscher Sprache erschienen. Speisekammer. Vorräte einfach selbst gemacht ist 2018 erschienen. Der Titel führt etwas in die Irre, weil sich viele der 350 leckeren Rezepte nicht nur für die Speisekammer als Vorratskammer

reduzieren lassen. Es handelt sich aber immer um Rezepte, um Speisen, die nicht zum sofor-tigen Verzehr – als Abendessen etwa – gedacht sind: Brote, Eis, Würste und und und.

Wer sich an Sauerteigbrote wagen möchte, der findet bei Vanessa Kimbell ein vielfältiges Re-zeptbuch nicht nur für Brote, sondern auch eines für Wähen, Kuchen oder Apéroleckereien.

Lutz Geissler ist ein Fachmann für Brote und sein Buch Brot backen in Perfektion mit Hefe ist ein sicherer Tipp, um nahe an die Brote von Willis Brotladen heranzukommen.

Meine persönliche Kochbibel ist allerdings seit Jahrzehnten Das Fülscher-Kochbuch. Meine Ausgabe aus dem längst erloschenen Verlag «Albert Müller Rüschlikon» aus dem Jahre 1983 heisst im Untertitel noch «Der Führer zur Kochkunst mit 1700 Rezepten von inter-nationalem Niveau». Wenn das nichts ist! Oder besser: war. Heute liesse sich so kein Kochbuch mehr verkaufen. Die Neuausgabe beim Verlag HIER UND JETZT hat trotzdem und zum Glück am ur-sprünglichen Konzept festgehalten: Die Rezepte sind Basics. Dazu braucht es keine aufwendigen Fotos. Wer nach Fülscher kochen kann, ist ohne Probleme in der Lage, alle Rezepte eines jeden Kochbuches nachzukochen oder auch in-dividuell aufzupeppen. Ein in erster Linie äus-serst nützliches Buch – für Anfänger, Singles und junge Paare, auch wenn es als Aschenputtel daherkommt.

Werner Wüthrich: Vom Land. Berichte. Unionsverlag, vergriffen, antiquarisch ab Fr. 15.– Lorena Paterlini: Nehmen Sie gefälligst ihren Hund an die Leine! Applaus Verlag (www.applausverlag.ch) Fr. 32.50Vanessa Kimbell: Die Sauerteigschule. Edition Fackelträger, Fr. 41.50Eisenmann Frisk/Eisenmann: Speisekammer. Hölker Verlag Fr. 47.90Lutz Geissler: Brot backen in Perfektion mit Hefe. Becker-Joest-Volk, Fr. 37.50Fülscher/Bender/Städeli: Das Fülscher-Kochbuch. HIER UND JETZT, Fr. 79.–

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Von Afrikas Geistern

Paul Stoller ist ein amerikanischer Ethnologe, der ab 1976 immer wie-der in Afrika weilte, vor allem im Gebiet der Songhais, die entlang des Mittellaufes des Nigers siedeln. Stoller lernte die Sprache des einst mäch-tigen Stammes und nahm sich vor, sich als Zauberer ausbilden zu lassen. Das ging drei Jahre lang gut und er lernte Zauberworte, geheimnisvolle Rituale, Zaubergetränke. Das ging alles gut, bis er auf eine berüchtigte Zauberin traf, die ihn mit ihm nicht bekannten Methoden attackierte. Stoller erlitt rätselhafte Lähmungen der Beine, so dass er das Land fluchtartig verlassen musste, da er befürchtete, ein Zauberbann würde ihm auch noch den Verstand rauben. Er lernte darauf magische Pulver einzunehmen und Amulette auf dem Körper zu tragen; derart gewapp-net, kehrte er in den frühen 80er-Jahren mit Cheryl Olkes an den Niger zurück. 1984 kehrten die beiden in die USA zurück und arbeiteten ihr ethnologisches Material – unzählige Aufzeichnungen von Gesprächen etc. – auf. 1987 erschien ihr Buch Im Schatten der Zauberer in der Chicago University Press. Obwohl in den vergangenen vierzig Jahren auch in Afrika die Zeit nicht stehengeblieben ist, kann man noch heute in den abgelegenen Dör-fern der Songhais oder auch der Dogons eine Atmosphäre wahrnehmen, die uns das Vorhandensein von Zauberei erahnen lässt. Das packende Buch ist nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Nii Parkes wurde 1974 in England geboren und wuchs in Ghana auf; er schreibt Prosa und Lyrik und performt seine Texte auf den Bühnen von London und New York. 2009 erschien sein erster Roman Tail of the Blue Bird, ein Jahr später veröffentlichte der Unionsverlag den absolut faszinierenden Band unter dem Titel Die Spur des Bienenfressers. In Sonokrom, einem Dorf im Hinterland Ghanas, trinken die Leute noch Palmwein und sie verstehen noch die Sprache des Waldes. Ein unerklär-licher Vorfall verunsichert die Dorfbewohner und zugleich verschwindet mysteriös eine Frau. Der Städter Kayo, Gerichtsmediziner, wird mit dem Fall beauftragt. Doch er bleibt mit seinen wissenschaftlichen Methoden bald stecken – und für Übersinnliches hat er kein Musikgehör. Tja, was macht man da?

Paul Stoller/Cheryl Olkes: Im Schatten der Zauberer. Piet Meyer Verlag, Fr. 28.– Nii Parkes: Die Spur des Bienenfressers. Unionsverlag, TB, Fr. 13.90 Abubakar Adam Ibrahim: Wo wir stolpern und wo wir fallen. Roman, Residenz Verlag, ca. Fr. 33.– Petinah Gappah: Aus der Dunkelheit strahlen-des Licht. Roman, S. Fischer, ca. Fr. 34.– Lucinda Riley: Die Sonnenschwester. Roman, Goldmann Verlag, Fr. 30.90

Foto Marianne San Miguel

Aus dem Schwarzen Kontinent kommen auch die zwei folgenden tollen, empfehlenswerten Romane, wenn Sie sich denn auf Afrika einzulassen wagen. Beide führen den Leser in eine uns fremdartige Welt und Men-talität, wie sie wahrscheinlich nur von Autorinnen und Autoren in eine überzeugende Form gebracht werden können.

Abubakar Adam Ibrahim (*1979) stammt aus Nordnigeria und lebt heute als Schriftsteller und Autor in Abuja. Und schon mit dieser 3-Millio-nen-Stadt müssen sich viele schon eingestehen, dass unser Wissen über Afrika bescheiden ist – Abuja ist seit 1991 die Hauptstadt des bevöl-kerungsreichsten Staates des Kontinents, eine Stadt, die auf dem Reiss-brett entworfen wurde und die in der NZZ vom 25.5.2015 als einzig

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gelungenes Beispiel einer neuentworfenen Metropole charakterisiert wird, auch wenn sie auf «geraubtem Boden entstand, was möglicherweise ein schlechtes Omen» sein könnte. In Wo wir stolpern und wo wir fallen erzählt Ibrahim kraft-voll farbig eine amour fou zwischen einer schon älteren Frau und einem dreissig Jahre jüngeren Chef einer Jugendbande im Wohnviertel der Witwe Bintsa Zubairu. Hintergrund, aber viel mehr als nur Folie, ist die heutige gesellschaftliche Situation des zerrissenen Landes, in dem politische und religiöse Gewalt das Leben stark beeinflusst. Die un-mögliche Liebesgeschichte packt uns Weisse mit grossen, aber eben nicht kitschigen Gefühlen, mit Humor und lebensnahen Schilderungen eines Alltags, den man so auch nicht in einem Film zeigen könnte.

Verglichen mit Ibrahim ist die 1971 in Simbabwe geborene Petina Gappah Akteurin auf internationalem Parkett: Sie studierte Jura in Cambridge und Graz, war für zehn Jahre tätig als Anwältin für inter-nationales Handelsrecht bei der Welthandelsorganisation in Genf und schrieb nebenbei auch noch Romane und Erzählungen. Dieses Jahr er-schien vom Shooting Star zeitgleich in Englisch und Deutsch ihr histo-rischer Roman Aus der Dunkelheit strahlendes Licht. Sie blendet darin um mehr als ein Jahrhundert zurück und erzählt – nach intensiven Recherchen – die schier unglaubliche Geschichte von der Rückführung des Leichnams David Livingstones. Als der englische Missionar und Erforscher der Nilquellen 1873 stirbt, beschliesst seine treue Gefolg-schaft, die sterblichen Überreste nach England, oder zuerst einmal ans Meer zurückzuführen. Gappah erzählt packend diese lebensgefährliche Reise über mehr als 1500 Meilen. Im Zentrum steht dabei Halima, Livingstones Köchin. Es ist grosses Kino, das Gappah uns bietet, ein Kino, das uns in wechselnden Filmschnitten zeigt, wie Kolonialismus, Aberglaube oder die Sklaverei den Schwarzen Kontinent geteilt und in Widersprüche verwickelt haben, die noch heute nachwirken.

Lucinda Riley ist eine Megaseller-Autorin der Unterhaltungsliteratur. Soeben ist der sechste Band einer Serie erschienen, für den in den Schaff-hauser Bibliotheken die Leute Schlange stehen: Die Sonnenschwester. Dieser Band führt die reiche, berühmte und bildschöne Elektra d’Aplièse, die in New York modelt, zurück zu ihren Wurzeln in Afrika. Hier ist der dunkle Kontinent nichts anderes als ein Abziehbildchen, eine billige Folie für einen kitschtriefenden Roman. Der Titel sei hier nur deshalb er-wähnt, weil ein Vergleich mit den oben genannten Büchern aufzuzeigen vermag, welcher Lesegeschmack in Prospekten angesprochen wird, wenn von Unterhaltung, Belletristik oder gar Literatur die Rede ist.

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Rüdiger Safranski: Hölderlin. Komm! ins Offene! Freund! Biografie, Hanser Verlag, Fr. 37.–

Peter Härtling: Hölderlin. Ein Roman. dtv, Fr. 18.50Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte und Hyperion. Insel Verlag, Fr. 29.20Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister. Hanser Verlag, Fr. 30.–Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin, Suhrkamp, vergriffen, antiquarisch ab ca. Fr. 15.–

Und wieder einmal Hölderlin

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) gilt in der deutschspra-chigen Literaturgeschichte als Schwergewicht, obwohl ihn kaum einer mehr liest. Sein Werk allerdings ist nach wie vor in verschiedensten Ausgaben greifbar. Es sind heute vor allem die ersten vier Verse aus der 1803 entstandenen Hymne Patmos, die bei der von D.E. Sattler herausgegebenen Frankfurter Ausgabe unter «hesperische Gesänge» und bei Friedrich Beissners Aus-gabe unter «Vaterländische Gesänge» zu finden ist, die hin und wieder zitiert werden; sie können durchaus auch Menschen des 21. Jahrhunderts noch innehalten lassen:

Nah istund schwer zu fassen der Gott.Wo aber Gefahr ist, wächstdas Rettende auch.

Von Peter Härtling erschien 1976, fein in Leinen gebun-den, Hölderlin. Ein Roman. Härtling schrieb bewusst einen Roman und keine Biografie. Natürlich informierte sich Härtling für seinen Roman bei vielfältigen Quellen, lässt aber den streng wissenschaftlichen Aspekt aus. Zum Glück für uns Leser und Leserinnen. Härtlings Hölderlin-Buch war für mich eine Offenbarung, ein biografischer Roman, der nicht zu übertreffen ist. Auch wenn vieles in der Zwischenzeit verblasst ist, ich sehe noch Hölderins abenteuerliche, beschwerliche Reise nach Bordeaux vor mir. Härtling verzichtet auf Werkinter-pretationen, es ist vielmehr seine persönliche Annäherung an den Dichter, der die letzten 37 Jahre seines Lebens, ver-wirrt und unheilbar krank, im Turmzimmer zu Tübingen

verbracht hat. Härtlings Roman, packend und berührend geschrieben, richtet sich an ein Publikum, dem die Litera-tur- und Geistesgeschichte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts weitgehend fremd ist.

1981 erschien dann vom französischen Hölderlinforscher Pierre Bertaux bei Suhrkamp eine umfangreiche Biografie, die sich aber vor allem an Kenner richtete. Nun, fast vier-zig Jahre später, legt Rüdiger Safranski nochmals eine neue Biografie vor. Der Band ist schmaler als seine grossen Bücher über Hölderlins Zeitgenossen Goethe, Schiller oder E.T.A. Hoffmann; er kommt in sprachlicher Hinsicht frisch und erfreulich unakademisch daher, was Germanisten zuweilen etwas bemäkeln. Dennoch, Rüdiger Safranski gelingt es, Hölderlins Lebenslauf spannend zu schildern und diesen in seiner Zeit so zu verankern, dass auch Nicht-Literaturwissenschaftler oder Nicht-Historiker einen fun-dierten Über- und Einblick in das Zeitalter der Klassik und Romantik erhalten. Ein Lesegenuss für alle, die es schätzen, wenn die Flughöhe eines Buches etwas höher liegt als jene eines Segelfliegers.

In einem witzigen und zugleich gelehrten Essay geht Karl-Heinz Ott den Hölderlin-Manien des 20. Jahrhunderts nach. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war Hölderlin fast vom Tableau der deutschen Literaturgeschichte ver-schwunden. Der Kreis um Stefan George, dessen Symbo-lismus und Männerbündisches ans Esoterische reicht, schuf dem Schwaben aus dem Tübinger Turm wieder eine Platt-form, die von Heidegger aufgenommen wurde, auch von Adorno und der 68er-Bewegung: Hölderlin, der grosse ver-kannte Dichter, wurde von diametral auseinanderliegenden politischen und gesellschaftlichen Strömungen für sich reklamiert. Otts weitgefächerter Essay kann durchaus als Bereicherung zur deutschen Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts gelesen werden.

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Rebecca Gablé gehört zu den gefeiertsten Autorinnen historischer Romane deutscher Zunge. Ihr neuer Roman Teufelskrone, ein gut 900 Seiten starker Wälzer, spielt im 12. Jahrhundert in England. Neben dem fik-tiven Waringham-Clan, den man schon aus fünf früheren Bänden kennen könnte, agieren auch historische Personen wie Eleonore von Aquitanien, König Richard Löwenherz oder Johann ohne Land in diesem lebensprallen, farbenprächtigen und spannend geschriebenen Roman. Denis Scheck gar setzt dem Schmöker ein kleines Literaturkrönchen auf: Im Gegensatz zu Martin Suters Allmen und der Koi oder Adler Olsons neuem Thriller Opfer 2117 spedierte er in seiner Bewertung der Spiegel-Bestsellerliste die Teufelskrone nicht in die Mülltonne. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Roman in sprachlich-stilistischer Hinsicht nicht in der ersten Liga spielt.

Wer sich mit Eleonore von Aquitanien (1122–1204) oder mit Richard Löwenherz (1157–1199), einem ihrer Söhne, im engeren Sinne historisch beschäftigen möchte, dem seien die zwei Biografien von Ralph V. Turner und Robert-Tarek Fischer anempfohlen. Turner zeichnet ein differenziertes Porträt der bedeutendsten Frauengestalt des Mittelalters: In erster Ehe mit Ludwig VII. verheiratet, brachte sie das Herzogtum Aquitanien wieder näher zur französischen Krone. Nach der folgenschweren Scheidung und der Heirat mit Heinrich Plantagenet, die sie 1154 auf den englischen Thron brachte, bescherte sie Frankreich und England für gut 300 Jahre Probleme, die erst mit dem Flammentod Jeanne d’Arc’s 1431 und dem Ende des Hundertjährigen Krieges 1453 abebbten.

Eine Ikone des Mittelalters nennt Robert-Tarek Fischer König Richard Löwenherz. Und in der Tat spielte Löwenherz in den Kreuzzügen gegen Sultan Saladin eine eminente Rolle. Auf dem Rückweg von Palästina ge-riet er dann in Oesterreich in Gefangenschaft, die mit einem gigantischen Erpressungsfall mit Lösegeldübergabe endete. Er regierte ein Königreich von Schottland bis zu den Pyrenäen, und es gab Stimmen, die ihn mit Kon-takten zu Robin Hood in Verbindung brachten. Fischers akribische Bio-grafie lässt sich gut lesen und lässt vor unseren Augen nicht nur in vielen Schattierungen eine charismatische und auch widersprüchliche Persönlich-keit, sondern auch lebhaft konturiert die Welt des 12. Jahrhunderts erleben.

Leuchtendes dunkles Mittelalter:

Leonore von Aquitanien und König Richard Löwenherz

Rebecca Gablé: Teufelskrone, Bastei-Lübbe, Fr. 38.90Ralph V. Turner: Eleonore von Aquitanien, C.H. Beck, Fr. 23.50Robert-Tarek Fischer: Richard I. Löwenherz, Böhlau Verlag, Fr. 36.–

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Die Caudillos und die Literatur

Die Demokratie steht in Lateinamerika immer wieder auf tönernen Füs-sen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, sie sind in der Geschichte der ausbeuterischen Kolonialisierung zu finden und wohl auch darin, dass die politisch herrschenden Klassen immer wieder durch Korruption, Günstlingswirtschaft und selbstherrliche Machtansprüche Recht und demokratische Ordnungen zu ihren Gunsten beugen. Der Glaube an die Kraft demokratisch gestalteter Herrschaft ist ramponiert, und man setzt lieber auf Caudillos, auf charismatische Persönlichkeiten – mit eigentlich wohlbekanntem Ausgang.

Michi Strausfeld, 1945 in Recklinghausen ge-boren, ist Literaturwissenschaftlerin und leite-te bis 2008 das spanisch-lateinamerikanische Programm des Suhrkamp Verlages. Ihre zahl-reichen Reisen und langen Aufenthalte auf dem amerikanischen Subkontinent brachten sie mit den wichtigsten Autorinnen und Autoren zu-sammen; so wurde sie dann auch zu der wich-tigsten treibenden Kraft in der Vermittlung lateinamerikanischer Literatur im deutsch-sprachigen Raum. Ihr diesen Sommer erschie-nenes Buch Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren kann als Summe ihrer Beschäftigung mit der Literatur aus Südame-rika in literaturgeschichtlicher oder auch kom-paratistischer Hinsicht gelesen werden, es ist jedoch auch ohne Zweifel ein politisches Buch, eine Geschichte Lateinamerikas, geschrieben aus der Sicht der Autorinnen und Autoren, die sich als wahre Chronisten zeigen. Dass der Band mit der neusten Zeit etwas abflacht und die Tiefenbohrungen zugunsten von Ober- flächenschürfungen verschwinden, liegt jedoch in der Natur der Objekte und tut dem Buch kei-nen Abbruch. Michi Strausfelds Buch scheint mir ein absolutes Muss für alle, die in Latein-amerika nicht nur den Strand von Copacabana und die Bars in Buenos Aires besuchen. Es ist im Weiteren ein Buch für alle Literaturlieb- haberInnen, das einem neben der Geschichte auch eine Fülle von Lesetipps vermittelt.

Es gibt keine Ortschaft in Lateinamerika, wo der Name Simón Bolívar nicht vorkommt – der Libertador ist allgegenwärtig; selten zu finden hingegen ist im deutschen Sprachraum die Literatur über ihn. Gabriel García Márquez widmete dem Befreier einen Roman, der mit Rückblenden allerdings nur die letzte Lebens-spanne des grossen Generals umspannt. «Wer sich einer Revolution verschreibt, pflügt das Meer» schrieb Bolívar am Ende seines Lebens. Als er im April 1830 als Präsident Grosskolum-biens zurücktrat, blieben dem 47-Jährigen noch acht Monate bis zum Tod am 17. Dezember. García Márquez gelingt ein berührendes Buch, das jedoch bei aller Sympathie zu Bolívar auch die widersprüchliche Person herausarbei-tet, und der Autor scheut sich auch nicht, seinen Helden vom Denkmalsockel zu stürzen. 1989 erstmals auf Deutsch erschienen, ist das Buch zum Glück immer noch lieferbar.

Vergangenen Frühling sorgte das Buch einer jungen Mexikanerin für Schlagzeilen, wurde bis hinauf zum Literaturclub gelobt: Gringo Champ von Aura Xilonen. Erzählt wird die Geschichte des jungen Liborio, der über die grüne Grenze von Mexiko ins gelobte Land USA flieht, dort in einer Buchhandlung einen Job kriegt und sich dann im weiteren Verlauf zu einem provinziellen Boxchampion mausert. Das Buch irritiert einen im ersten Drittel mit einer vulgären, verqueren Sprache, die mit zu-nehmender Integration gepflegter wird. Mir persönlich scheint das Buch trotz vieler Lobes-hymnen etwas überbewertet.

Page 21: BÜCHER-FASS 2019 · 2019. 11. 29. · umpflügte. Kunst, Mode, Lifestyle, Fotografe, Architektur waren die Themen, auflagenstark und deshalb preisgünstig, weil mehrsprachig einsetzbar,

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Valeria Luiselli, 1983 ebenfalls in Mexico geboren, legt im Gegensatz dazu einen grandiosen Roman hin: Archiv der verlorenen Kinder. Aus wechselnden Erzählperspektiven lesen wir atemlos die Geschichte einer Patchworkfamilie aus einem künstlerisch-intellektuellem Milieu der Alternativszene, wir verfolgen tragische Geschichten von Kindern, die ohne Eltern aus Mexiko geflüchtet sind und von Grenzwächtern aufgegriffen wurden und in desolaten Auffanglagern auf eine ungewisse Zukunft warten, wir folgen der Familie nach New Mexico und Arizona, wo der Vater in einem vorerst verheimlichten Projekt der Geschichte der Chiricahua-Apachen nachgehen will. Das Buch, das auch eine Fund-grube von Literaturverweisen ist und eine auch etwas nachdenklich stimmende Liebesgeschichte, ist aber auch vor allem das, was The New Yorker, für einmal wirklich zutreffend, schrieb: «... eine wunderschöne, liebevolle Hommage an die Kinder, die wir behüten sollen». Für mich eines der eindrücklichsten Bücher der Saison.

Fernanda Melchor stammt ebenfalls aus Mexico und ist ein Jahr älter als ihre Kollegin Luiselli. Ihr erster auf Deutsch erschienener Roman Saison der Wirbelstürme ist ein dunkler, funkelnder Roman, der einen mit seiner expressiven, ausufernden Sprache in den Strudel einer brutalen, gewalttätigen Welt zieht, wo jede aufkeimende Zärtlichkeit gleich wie-der erstickt wird. Eine Kinderschar robbt durch ein Zuckerrohrdickicht in einer gottverlassenen Gegend Mexikos. Zwischen Plastikmüll und Schilf stossen sie auf die Grimasse einer Toten; als la bruja, die Hexe, wird sie identifiziert. Das Buch erinnerte mich ein wenig an die Romane von Cormac McCarthy, die ebenfalls mit einer grandiosen sprachlichen Wucht von Gewalt, existentieller Einsamkeit und zwischendurch einem Funken Menschlichkeit von Menschen erzählen, die jenseits der Orte leben, die wir uns vorstellen können. Melchors Buch ist ein grandioser Text für LiteraturliebhaberInnen.

Wer bei Google «Asturias» eingibt, stösst mit der ersten Suche auf kein Ergebnis, der guatemaltekische Literatur-Nobelpreisträger Miguel Ángel Asturias erscheint erst im zweiten oder dritten Anlauf. Sein schmaler Band Legenden aus Guatemala, die auf die Maya-Zeit zurückgehen, war vor bald fünfzig Jahren im Bücher-Fass ein Bestseller. Greifen Sie zu, wenn Ihnen ein Exemplar über den Weg läuft.

Eduardo Halfon (*1971) ist ein Landsmann von Miguel Ángel Asturias. Vom heute an der University of Iowa lehrenden Autor mit libanesisch-polnischen Wurzeln ist diesen Herbst der schmale Roman Duell erschie-nen – es ist sein drittes Buch auf Deutsch, wobei sein erster Roman Der polnische Boxer aus dem Jahre 2014 wohl bald schon wieder vergriffen sein wird. Auf 110 Seiten skizziert der Autor in dichten Bildern eine Fa-miliengeschichte, seine Familiengeschichte. Niemand spricht über Onkel Salomon, er sei, heisst es vage, im Amatitlán-See schon als kleiner Junge ertrunken. Dann taucht in einer Schachtel ein Foto auf und zeigt einen schon etwas älteren, gebrechlichen Knaben in New York. Was stimmt da nicht. Halfon dröselt in seinem neuen, spannenden Buch die Geschichte der Familie auf, erzählt von den jüdischen Wurzeln und jenen des andern Grossvaters aus Beirut. Keine Schmalspurliteratur, sondern ein Buch, wie man es nicht allzu oft findet.

Valeria Luiselli

Foto ©: Dan Callister

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Michi Strausfelds Buch erwähnt ihn und be-zeichnet ihn als wichtigsten Vertreter der indi-genen Welt: José María Arguedas (1911–1969). Sein 1958 (deutsch: 1965) erschienener Roman Die tiefen Flüsse, jetzt wieder neu aufgelegt bei Wagenbach, erzählt die Geschichte des jugendlichen Ernesto, der seinen Vater auf der Suche nach Mandanten bei Mestizen und Indios in die Kordilleren der Anden oder in die Wüste begleitet und dabei in Kontakt zur indigenen Kultur und Geschichte kommt. Der peruanische Autor übersetzte Lyrik aus der Quechua-Sprache und Texte aus anderen indi-genen Quellen. Dabei stiess er im sogenannten Manuskript von Huarochirí auf Geschichten von zwei Füchsen: der von oben repräsentierte das ertragreiche Hochland, der von unten steht für die Wüstenlandschaft an der Pazifikküste. Diese beiden Füchse wurden zu Sinnbildern in seinem letzten posthum veröffentlichten Ro-man, der jetzt ebenfalls erstmals auf Deutsch bei Wagenbach erschienen ist: Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten. In diesem auch sprachlich vielschichtigen Roman stehen sich die andine, einer kulturellen Tradition des ökologischen Ausgleichs verpflichtete Hoch-kultur und die neue, vom schnellen Geld ge-prägte Kultur des kapitalistischen Geistes in den Industriestädten an der Küste gegenüber. Arguedas verflicht kunstvoll die verschiedenen Handlungsstränge und verknüpft sie im Weite-ren mit einem Tagebuch des Icherzählers, der wahrscheinlich der Autor selbst ist. Ein grosser Wurf für alle, die nicht nur Strandlektüre kon-sumieren.

Rodrigo Hasbún (*1981) ist Bolivianer mit pa-lästinensischen Wurzeln. Ähnlich wie sein Schriftstellerkollege Halfon blendet sein Kurz-roman Die Affekte zurück nach Europa und nimmt gar historisch verbriefte Personen auf, die er jedoch dann trotzdem weitgehend frei agieren lässt. Hans Ertl ist so einer, geb. 1908 in München, gestorben 2000 in La Paz, Bolivien; er gehört zu jenen letzten Abenteurern, wie sie im vergangenen Jahrhundert noch zu finden waren. Als Bergsteiger war er bei einigen Erst-begehungen dabei; er war Teilnehmer bei ei-ner gescheiterten Karakorum-Expedition 1934 von G.O. Dyhrenfurth1, die den Nanga Par-bat bezwingen wollte; 1953 filmte er die Erst-besteigung des Nanga Parbat durch Heinrich Buhl; er war Kameramann bei Leni Riefen-stahls Propagandafilm «Olympia» und neben vielem anderen mehr suchte er zwischen 1954 und 1955 die sagenhafte, verschollene Inka-stadt Paititi im peruanischen Amazonasbecken. An Monika, Ertls ältester Tocher, geht das alles nicht spurlos vorbei. Sie radikalisiert sich bei der ELN Che Guevaras. Dieser Ertl also und seine Familie, vor allem jedoch Monika, sind die Protagonisten von Hasbúns Roman. Der Roman packt einen von der ersten Seite weg und lässt einen nicht mehr los.

Michi Strausfeld: Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. S. Fischer, Fr. 36.50

Gabriel García Márquez: Der General in seinem Labyrinth. Roman, Kiepenheuer & Witsch, geb., Fr. 28.– /TB im Fischer-Taschenbuch, Fr. 14.50

Aura Xilonen: Gringo Champ. Roman, Hanser, Fr. 30.50Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder. Roman, Kunstmann Verlag, Fr. 32.50Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman, Wagenbach Verlag, Fr. 29.–Miguel Ángel Asturias: Legenden aus Guatemala. Bibliothek Suhrkamp, vergriffen, antiquarisch ab ca. 15.–

Eduardo Halfon: Duell. Roman, Hanser, Fr. 25.90

Der polnische Boxer. Roman, Hanser, Fr. 26.90José Maria Arguedas:

Die tiefen Flüsse. Roman, Wagenbach, Fr. 19.–

Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten. Roman, Wagenbach, Fr. 32.–

Rodrigo Hasbún: Die Affekte. Roman, Suhrkamp, Fr. 25.–

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Die Maske des Agamemnon

Neil Mac Gregor’s 2011 erschienenes Buch Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten ist noch heute für mich eine Fundgrube für historische Ereignisse; sie stösst in kulturellen Gegenständen oder Artefakten eine Türe auf, die Einblick in die wichtigsten Weichenstellungen der Welt-geschichte gibt. Die Maske des Agamemnon fehlt dabei, vielleicht weil sie sich nicht im British Museum befindet. Ein ausserordentliches Haus-buch für die Zukunft ist es dennoch.

Bei archäologischen Grabungen stiess 1876 Heinrich Schliemann bei Mykene auf drei Gräber mit reichen Grabbeigaben aus Gold; er war der Meinung, eines davon samt schöner Goldmaske gehöre Agamemnon, der die Griechen gegen Troja führte. Felix Graf aus Stein am Rhein hat zu dieser Maske in seinem neusten literarischen Tagebuch Die Launen des Windes, das ich Ihnen wärmstens empfehle als eloquenten, elegant geschriebenen regionalen und europäischen Kulturspeicher, drei schöne Texte verfasst.

Felix Graf: Die Launen des Windes. edition vogelfrei, Fr. 29.–Neil Mac Gregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. C.H. Beck, Fr. 52.90 oder, in kleinerer (weniger empfehlenswerter) Ausgabe, Fr. 35.90Homer: Ilias in der Übersetzung von – Heinrich Voss, Fischer TB, Fr. 17.20 – Roland Hampe, Reclam, Fr. 11.90 – Wolfgang Schadewaldt, Insel TB, Fr. 17.90 – Kurt Steinmann, Manesse, Fr. 122.– – Raoul Schrott, Fischer TB, Fr. 25.90Homer: Ilias/Odyssee in der Übertragung von Walter Jens, Ravensburger, Fr. 22.–Jan Bajtlik: Ariadnes Faden. Götter, Sagen, Labyrinthe, Moritz Verlag, Fr. 32.–

Von Thomas Ribi findet man in der NZZ vom 2. April 2019 einen empathischen Artikel über die alten Sprachen Griechisch und Latein. Da meinte er zum Schluss, dass es sich allein wegen des 24. Gesanges von Homers Ilias lohnen würde, Altgriechisch zu lernen. Wenn das kei-ne Ansage ist! Allein, in meinem Alter liegt das wohl nicht mehr drin, ich halte mich deshalb an Übersetzungen: zum Beispiel jene von Heinrich Voss von 1781 (Odyssee) und 1793 (Ilias), der mit ihren Hexametern wohl wirkmächtigsten im deutschen Sprachraum; oder jene des bedeu-tenden Gräzisten Wolfgang Schadewaldt in frei-eren Versen von 1975. In Hexameter haben auch Roland Hampe (1979) und Kurt Steinmann ihre lesenswerten Übersetzungen gekleidet. 2008 stach Raoul Schrott mit seiner freien Überset-zung regelrecht in ein Wespennest.

Was aber soll man nun lesen? Als Nicht-Altphilologe sehe ich Schrotts Übersetzung für LeserInnen vorne. Wer allerdings Wert darauf legt, die Ilias im ursprünglichen Versmass zu lesen, dem empfehle ich die Übersetzung Stein-manns. Oder aber man nimmt die unglaublich gut nachempfundene Übertragung für Jugendliche von Walter Jens aus dem Jahre 1956 zur Hand; sie erfordert auch von Erwachsenen höchste Aufmerksamkeit und ist ein Glanzlicht für alle Zeitgenossen, die die sprachliche Atmosphäre des Urtextes mitbekommen möchten und den-noch die Geduld und Zeit nicht haben, diesem zu folgen.

Verspielt führt hingegen Ariadnes Faden von Jan Bajtlik in die Welt der Götter und Sagen der Antike. Doch Vorsicht: Auch dieses labyrinthische Bilderbuch ist nicht einfach zu konsumieren. Allein, Sie wissen’s so gut wie ich: Konsum hat weder mit emotionalen noch mit rein sachlichen Erkenntnissen viel gemeinsam.

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Bild aus: «Nehmen Sie gefälligst Ihren Hund an die Leine!» von Lorena Paterlini, Applaus Verlag

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Bilder: © Bruno Manser Fonds

Tagebücher aus dem Regenwald

Bruno Manser, geboren 1954 in Basel, machte nach der Matur 1973 Fortbildungskurse zur Alp- und Senn-wirtschaft und arbeitete während den Sommermona-ten bis 1984 im Kanton Graubünden jeweils als Hirte. Ab 1977 absolvierte er daneben im Naturhistorischen Museum Basel ein Praktikum. Im Januar 1984 verlässt er die Schweiz Richtung Thailand: «Mit 1000 Stunden- kilometern Geschwindigkeit flitzt der Donnervogel 10 km über dem Erdboden durch Wolkenfelder.» So beginnt sein erstes Tagebuch – 16 werden es 1990 sein, als er aus Malaysia als persona non grata ausge-wiesen wird und in die Schweiz flieht. Die 16 Tage- bücher erschienen posthum 2004 – Bruno Manser wird seit dem 25. Mai 2000 vermisst, und im März 2005 erklärt ihn ein Gericht offiziell als verschollen. Sie waren bald vergriffen und sind nun nochmals neu aufgelegt worden. Manser notiert detailliert und genau, was er sieht, hört, beobachtet oder erzählt bekommt – alles über Flora und Fauna, über Handwerk, Jagd und Lebens-weisen der Punan oder Penan auf Sarawak, der malai-ischen Provinz auf Borneo; Zeichnungen und Skizzen illustrieren zusätzlich die Texte. Manser realisiert schnell, dass die Lebensgrundlage der indigenen Völ-ker, der Tropenwald Borneos, durch massloses Abhol-zen zerstört wurde, und er beginnt, sich für die Völker, bei denen er wohnt und deren Lebensgrundlagen er erforscht und zu begreifen anfängt, stark zu machen. Seine Tagebücher sind nicht nur als unerschöpflicher Fundus einer langsam verschwindenden Welt bedeu- tend, sie machen auch all jenen Mut, die sich nicht ab-finden mögen, dass die Welt des schnellen Geldes wegen zerstört wird. Mansers Vermächtnis gehört eigentlich in die Bibliothek eines jeden Haushalts.

Bruno Manser: Die Tagebücher aus dem Regenwald 1984–1990. 4 Bde. Im Schuber, Christoph Merian Verlag, 2019, Fr. 98.–