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Die Tatsache, dass die Protagonisten des Progressive Rock – Emerson,Lake & Palmer, Yes, Gentle Giant, Genesis – schon kurz nach der Blütedes Genres Anfang der 1970er-Jahre erschöpft waren und sich seit etwa1974 nur noch quasi »unter Schmerzen« durch ihre Aufnahme-Sessionsschleppten, die Punkrocker dem irrigen Glauben aufsaßen, dieser spezi-ellen Rockmusik den Garaus gemacht zu haben und einige meinungs-führende Journalisten dem Heer ihrer Kollegen die Feder führten mitder Behauptung, es habe sich ohnehin nur um eine besondere Art von»Stromverschwendung« gehandelt,1 bedeutete nicht, dass die Musikselbst verschwand. Rockmusik, die nach den Prämissen des ProgressiveRocks komponiert, aufgenommen und produziert wurde, gab es weiter-hin. Sie wurde natürlich nicht so genannt. Musikern war es zu dieserZeit längst gleichgültig, ob die Musik, die sie machten, nun Rock, odergar Rock’n’Roll – den Musikjournalisten der gängigen Magazine einerder liebsten Termini –, Pop, Art Rock, Retro-Rock, Post Rock, Alter-native Rock, Independent Rock oder wie auch immer benannt würde.So, wie Manager und Presse meinten, das Musikgeschäft der zweitenHälfte der 1970er-Jahre »steuern« zu können – erinnert sei an MalcolmMcLaren und seine Sex Pistols wie später an Trevor Horn und seine Fa-ke-Band Frankie Goes To Hollywood –, so sehr nutzten Musiker dieHysterie jener Tage, um jeden Preis neu zu sein.Bis dato wird beispielsweise die Band The Stranglers als »Punkrock-Band« bezeichnet. Ein kurzer Vergleich eines beliebigen Stückes vonThe Stranglers mit einem von The Sex Pistols dürfte den Hörer einesBesseren belehren. Die erste LP der Band, »IV« (1977), besser bekanntunter dem Titel »Rattus Norvegicus«, enthält mit dem Stück »Down inthe Sewer« sogar eine mehrteilige Komposition; Später, 2012, nannteJean-Jacques Burnel, Bassist der Band, im Gespräch mit Rick Wakemanden kleinen Zyklus tatsächlich »Suite«. Davon war 1977 natürlich nichtdie Rede. Der Begriff ist auch durchaus zu groß für »Down in the Se-wer«. Es wäre auch übertrieben, die vier Teile der Komposition – »Fal-ling«, »Down in the Sewer«, »Trying to Get Out again«, »Rat’s Ralley«– als »Sätze« (Movements) zu bezeichnen. Dennoch stehen die einzel-nen Teile der etwa siebeneinhalb Minuten dauernden Komposition instarkem Kontrast zueinander .»Down in the Sewer« zeigt vor allem,dass die Begriffe der ersten Ära des Progressive Rocks vermieden wur-den, kein Rockmusiker wollte seine Kompositionen mit »Suiten«,»Concerti« oder gar mit »Concept Album« in Verbindung gebrachtwissen. Ganz klar: The Stranglers waren keine Progressive-Rock-Band.Zwischen der letzten im Studio aufgenommenen LP von Emerson, La-

1http://peel.wikia.com/wiki/Emerson,_Lake_&_Palmer

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ke & Palmer und »Rattus Norvegicus« mit »Down in the Sewer«gab esaber ohnehin kein Vakuum. Unverdrossen brachten andere Bands desGenres Album um Album auf den Markt – etwa Gentle Giant, Camel,Van der Graaf Generator und Jethro Tull –, und Pink Floyd legte 1975mit »Wish You Were Here« gar eines der bedeutendsten Alben derRockmusik vor. Die meisten dieser Bands gehörten aber zur »zweitenReihe« der Progressive-Rock-Bands, hatten also nie den kommerziellenErfolg eben von Yes oder ELP erreichen können, und Pink Floyd wur-de seinerzeit nicht unbedingt zum Progressive Rock gezählt. Die Punk-Band The Sex Pistols wurde in diesem Jahr zusammengestellt, TheClash ein Jahr später.Im Oktober des Jahres veröffentlichte eine britische Band, die zuvornur einem kleinen Kreis von Zuhörern aufgefallen war, eine Single, diewie in einem Brennpunkt die Atmosphäre der Unbestimmtheit einfing– ohne dass das der Plan der vier Musiker war. Die Band nannte sichQueen und »Bohemian Rhapsody« war der Song einer Hardrockband,die einerseits zwar entgegen der Zeit auf Synthesizer verzichtete, ande-rerseits aber in geradezu virtuoser Weise die Möglichkeiten des Studioseinsetzte. »Bohemian Rhapsody« war aus mehreren völlig verschiedenenBruchstücken zusammengesetzt, der Song war bombastisch und virtu-os, die Single mit fast sechs Minuten Länge etwa doppelt so lang wie ei-ne »normale« Single – dennoch wurde »Bohemian Rhapsody« gegenEnde des Jahres 1975 äußerst häufig im Rundfunk gespielt.2

Queen war notabene keine Progressive-Rock-Band. In »BohemianRhapsody« wie auch in anderen Songs der LP aber nutzte die Band dietechnischen Mittel der Zeit – das waren vor allem 24-Spur-Tonbandgerä-te – ganz in der Art, in der sie die Bands des engeren Zirkels des Pro-gressive Rocks eingesetzt hatten. Noch im Frühjahr desselben Jahreshatte 10cc mit »I’m Not in Love« ein Stück Musik vorgelegt, in dem aufähnlich virtuose Weise eine Vielzahl von zuvor aufgenommenenGesangsspuren mehrere Unisono-Chöre ergab, die dann mit Hilfe desMischpults wie ein Instrument »gespielt« werden konnten. Diese»Layer«-Technik nutzte Brian May mehrfach auch für seine Gitarren-parts, baut also aus Einzeltönen ebenfalls Chöre, und schon bei frühe-ren Aufnahmen hatte die Band diese Technik eingesetzt, wenn auchnicht in der Perfektion wie bei »Bohemian Rhapsody«.Freddie Mercury, Brian May, John Deacon und Roger Taylor hatten inihren Song zusätzlich diverse Elemente aus anderer Musik integriert,teils durchaus ernst gemeint, teils aber auch als Parodie – die Musik derMusic Halls schimmert ja in vielen Songs von Queen dieser Zeit durch.In seiner Struktur besteht der 5 Minuten und 55 Sekunden dauerndeSong aus sechs Teilen; verwendet wurden Klavier, elektrische Gitarre –mit diversen Effektgeräten –, elektrische Bassgitarre, Drum Set, außer-

2Queen: A Night at the Opera(1975); zugrunde gelegt ist hier die

CD-Veröffentlichung von 1991. Zwi-schen »Good Company« und »Bohe-

mian Rhapsody« ist ein kurzesZwischenspiel eingebaut, dessen

Klang an den einer Flöte erinnert,aber wohl mit der elektrischen Gi-

tarre erzeugt wurde. Es ist nichtklar, ob dieser kurze Triller zu ei-nem der beiden Songs gehören soll

oder für sich steht. Die CD-Versionschlägt ihn »Bohemian Rhapsody«zu. In der hier gegebenen Analyse

wird der Triller nicht berücksichtigt.

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dem natürlich Sologesang und der mit Hilfe einer 24-Spur-Maschien er-zeugte Chor, dessen Stimmen Mercury, May und Taylor sangen, Taylorauch im Falsett.Die sechs Teile sind:

1. Introduktion2. Ballade3. Gitarren-Solo4. Opern-Parodie5. Hard-Rock-Teil6. Schluss

Das ist die »grobe« Struktur des Songs. Wenn auch kaum von Song imWortsinn gesprochen werden kann: »Bohemian Rhapsody« trägt nichtganz zufällig das Wort »Rhapsodie« in seinem Titel, denn die Form istfrei und ein Verse-Chorus-Schema nur in schwachen Umrissen erkenn-bar. Die Teile »Mama, just killed a man ...« bis ».. . nothing really mat-ters« und »Too late, my time ...« bis »I’d never been born at all« könnenals Verses gesehen werden, darin die Teile ab »Mama, ooo ...« vielleichsogar auch als Bruchstücke eines Chorus. Eher aber ist »BohemianRhapsody« durchkomponiert, dabei die Perspektive aus der Rockmusikfür einen Abschnitt in die einer Parodie der Kunstmusik, wechselnd.Für diesen Abschnitt werden Tempo und Tonart gewechselt, das Tem-po von Viertel etwa 75 Schläge auf Viertel 142 bis 148, die Tonart vonB-Dur auf D-Dur.Die »grobe« Struktur einmal beiseite gelassen, zeigt sich, dass die Dra-maturgie von »Bohemian Rhapsody« weniger von überkommenen For-men bestimmt ist – das war schon »A Day in the Life« von den Beatlesnur noch schwach – als von den Möglichkeiten der Mehrspurtechnikder Bandgeräte im Studieo.Queen setzte für die Rhapsodie lediglich die Instrumente ein, die dieMusiker auch auf der Bühne verwendeten: Gesang – Solo und Satz -elektrische Gitarre, elektrische Bassgitarre, Drum Set. Es gibt keineSynthesizer, kein Mellotron, kein reales Ensemble, etwa eine Streicher-gruppe. Im Studio wurden diese »Klangerzeuger« geschichtet. so dass-sich eine zweite Struktur ergibt:

00:00-00:14,5 (Intro) Chor links und rechts00:14,5-00:25,0 Chor + Klavier00:25-00:48,5 Chor + Klavier + Solostimme (Mercury)0048,5-01:19 (Ballade) Solostimme + Klavier + E-Bass01:19-02:18 Solostimme + Klavier + E-Bass + Drums02:18-02:21,5 Solostimme + Klavier + E-Bass + Drums + E-

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Gitarre (einfach)02:21,5-02:35,5 Solostimme + Klavier + E-Bass + Drums + E-

Gitarre + 2. Solostimme (hoch)02:35,5-03:02,5 (Gitarrensolo) Solostimme + Klavier + E-Bass +

Drums + E-Gitarre + 2. Gitarrenstimme + Chor03:02,5-04:07,5 (Oper) Klavier + Solo-Gesang + Chöre (Wechsel) +

Drums + E-Bass + Pauken04:07,5-04:54,5 (Hardrock) E-Gitarre (solo) + E-Bass + Drums + 2.

Gitarre + Solostimme04:54,5-05:11,5 (Schluss) E-Gitarre (mehrfach) + E-Bass + Drums +

Chor + Klavier05:11,5-05:14 Solostimme + Drums + E-Bass + Klavier + E-

Gitarreab 05:14 E-Gitarre wegab 05:18 E-Bass + Drums weg05:18-05:35,5 Solostimme + Klavierab 05:30 Solostimme wegab 05:33,5 Piano + E-Gitarre (Single-Note)ab 05:43 zwei Solostimmen »Anyway the wind blows …«05:47 Gong

Queen war eine Rockband, das heißt, dass die Aufgaben der Instru-mente klar definiert sind. Für den »Opern«-Teil gibt die Band diese Rol-len auf und parodiert mit ihren Mitteln die der Kunstmusik: DasSchlagzeug – 1975 längst emanzipiert – wird zum »Radau«-Instrument,setzt mächtige Akzente, die elektrische Gitarre wird durch studiotech-nische Vervielfältigung zur Streichergruppe, die drei Stimmen der Mu-siker auf gleiche Weise zu mehreren, auch widerstreitenden Chören,Taylor singt im Falsett, damit eine Sopransängerin parodierend. DieParodie würde in sich zusammenbrechen, wenn die vier Musiker realeStreicher engagiert oder gar Surrogatinstrumente eingesetzt hätten. Ob»Bohemian Rhapsody« ein Stück Progressive Rock ist, ist zwar eineeher akademsiche Frage, die Stilmittel hier aber sind die des ironischenArt Rocks in der Folge von den Beatles, 10cc und Roxy Music. Es zeigtsich in diesem Song auch die folgerichtige Entwicklung seit »Good Vi-brations« von den Beach Boys und »A Day in the Life« von den Beatles:Der klassische Song wird weiter aufgelöst, Formteile wie Verse undChorus verleiren nahzu völlig an Bedeutung zugunsten freier, offenerFormen, die dem jeweiligen Zweck angepasst werden, stets unter Zuhil-fenahme der jeweils aktuell zur Verfügung stehenden Studiotechnik.Gleiches lässt sich auch an der Musik von Kate Bush ablesen. Als 1978Kate Bushs erste LP, »The Kick Inside«, erschien, war von Punkrockkaum noch die Rede, er lag bereits in Agonie. Um Kate Bushs

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Karrierebeginn hatte sich David Gilmour, Freund der Familie, bemühtund bei der EMI – der Plattenfirma von Pink Floyd – erreicht, dass dieseinerzeit noch Minderjährige einen Plattenvertrag erhielt, den siezunächst nicht einlösen musste. An der Produktion der LP war Gil-mour ebenso beteiligt wie etwa der Keyboard-Spieler Duncan Mackay –ein Pianist und Organist, der im Schatten von Keith Emerson, RickWakeman und Patrick Moraz stand, ihnen aber keineswegs nachstand –,der Bassist und Gitarrist David Paton, der für Elton John und Alan Par-sons ebenso den Bass gespielt hatte wie für die Bands Pilot und Camel,der Gitarrist Ian Bairnson, ebenfalls zuvor bei Pilot, der SchlagzeugerStuart Elliott, vorher bei Steve Harley & The Cockney Rebel und beiAlan Parsons, und vor allem der Pianist und Organist Alan Powell, derbereits als Kleinkind Klavierunterricht erhalten hatte, an der KingsCollege School in Wimbledon ausgebildet worden war, unter anderemin Deutschland (Darmstadt) Kurse in Komposition etwa bei KarlheinzStockhausen und György Ligeti belegt und schließlich ein Kompositi-ons- und Klavierstudium am Kings College in Cambridge absolvierthatte. Als Musiker bewegte sich Powell zwischen alter und neuerKunstmusik und der Rockmusik. Mit anderen Worten: Kate Bush hatteeine Gruppierung von Musikern um sich versammelt, deren Kompe-tenz zum Teil auf einer traditionellen Instrumentalausbildung beruhte,in jedem Falle aber auf Erfahrungen im Progressive Rock. Daraus istnicht zu schließen, dass diese Musiker Kate Bush in dieser Weise beein-flussten, sie also auf kompositorische und instrumentale Möglichkeitender Kunstmusik aufmerksam machten, sondern umgekehrt: Kate BushsMusik konnte ohne Musiker mit umfassenden Kenntnissen der Musiküberhaupt gar nicht eingespielt werden – das leidliche Beherrschen vondrei Griffen auf der elektrischen Gitarre reichte dafür nicht. SpätestensKate Bush brachte das Kunstlied in die Rockmusik.Es war 1978 also auch ein gewisses Wagnis, einen Song wie »WutheringHeights« zu veröffentlichen: Abgesehen davon, dass schon der Titel,erst recht der Text des Songs nur mit etwas bürgerlicher Bildung zu ver-stehen ist, setzte Bush hier ohne Umstände die Stilmittel des ProgressiveRocks ein. Schon nach wenigen Takten wechselt die Taktart vom vor-herrschenden 4/4-Takt für einen Takt in den 2/4-Takt, die Tonart vonA-Dur nach b-Moll, später folgt ein zweiter 2/4-Takt.

IntroDas Intro umfasst zwei Takte, doch ist der zweite lediglich eine Wieder-holung des ersten Taktes, die Klavier-Spielfigur des ersten Taktes wirdum eine Oktave nach oben versetzt.

Strophe 1

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Intro

Strophe (Verse)

Die erste Strophe umfasst elf Takte und endet auf dem Text »Wuthe-ring, Wuthering, Wuthering Heights, Heathcliff«. Dieser elfte Takt –der den Text des Titels enthält – hat eine seltsame Stellung zwischenVerse (Strophe) und Chorus (Refrain), er wirkt wie eine Brücke: DerText wird auch in der zweiten Strophe nicht verändert und könnte des-halb als Teil des Refrains angesehen werden; dieser aber weicht in derFaktur der Musik stark von der Strophe ab.

Chorus 1Der Chorus besteht aus zweimal vier Takten. Metrisch sind diese vierTakte sehr frei, in Taktarten gefasst handelt es sich um die Folge von jeeinem Takt 4/4-, 3/4-, 2/4- und 3/4-Takt. Der zweiten Version dieserFolge wird ein weiterer 2/4-Takt angehängt, der den Übergang in den4/4-Takt der zweiten Strophe erleichtert.

Strophe 2Die zweite Strophe folgt im Aufbau exakt der ersten Strophe, weicht inden ersten vier Takten aber in der Melodieführung des Gesangs ein we-nig davon ab.

Chorus 2Der zweite Refrain entspricht dem ersten, besteht also ebenfalls auszweimal vier Takten. Anders als dem ersten Chorus folgt dem zweitenaber eine Art Bridge aus zwei Takten auf den Text »Oh! Let me have it,let me grab your soul away«, unmittelbar darauf drei Takte, die in Cho-rus 3 münden.

Chorus 3Chorus 3 entspricht Chorus 1 und Chorus 2, es ist der letzte mit Ge-sang. Der folgende Abschnitt basiert formal auf dem Chorus, der Ge-sang wird aber durch ein Instrumentalsolo ersetzt, für das eineelektrische Gitarre zum Einsatz kommt. Der Gitarrist Ian Bairnsonspielt eine Paraphrase zu Bushs Gesang, es handelt sich also allemal ummitunter recht langanhaltende Töne.Im Überblick stellt sich die Form wie folgt dar:

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Chorus (Refrain)

Miniatur-Bridge (ein Takt)

Bridge 1

Bridge 2

Die Instrumentierung des Songs wurzelt in der der Rockmusik derzweiten Hälfte der 1960er-Jahre: Im Zentrum stehen zwar Klavier, Bassund Drum-Set, es treten aber im Verlauf des Songs Orgel, Cembalo,2

akustische Gitarre und Streichinstrumente auf, in der Einleitung zu-nächst nur Violinen, in den Instrumentalchorussen am Schluss ein grö-ßeres Ensemble, zu dem auch eine Trompete gehört, die kurz eineReminiszenz an die Musik der Beatles aufblitzen lässt. Aber schon dieEinleitung, die dem ersten Eindruck nach lediglich aus einem kurzenStückchen Klaviermusik besteht, bietet dem Hörer mehr als den bloßenKlavierklang: Chimes, Violinen und wohl auch den Klang einer bund-losen elektrischen Bassgitarre. Diese »Schichtung ohne unmittelbareFolgen«, die zunächst ohne Begründung auskommt, war zuvor schon invielen früheren Rocksongs ein Stilmittel und ist sicherlich keine Erfin-dung Kate Bushs, erhielt sich aber auch bis in jüngste Zeit. Ihr Sinn liegtweniger in dem Willen, extravagante Zusammenstellungen von Instru-mentalklängen zu präsentieren, als in dem, eine bestimmte Atmosphärehervorzurufen.»Wuthering Heights« wartet mit einer Reihe von Merkmalen auf, dieallemal Stilmittel des seinerzeit gerade – angeblich – verblichenen Pro-gressive Rocks waren: Anspruchsvoller Text mit bildungsbürgerlichemHintergrund, Instrumentierung mit Cembalo, Streichern und Blech-blasinstrument, Phantasie in der Gestaltung der Metrik, Freiheit in derGestaltung der Form, aufbauend auf traditionell in der Rockmusik ver-wendeten Strukturen.Mit knapp viereinhalb Minuten Dauer ist »Wuthering Heights« derlängste der auf »The Kick Inside« enthaltenen Songs. Kate Bush setzte esgegenüber der Plattenfirma EMI durch, dass er dennoch als erster aufeiner Single veröffentlicht wurde. Gemessen an den monumentalen Zy-klen von Yes, Jethro Tull oder Emerson, Lake & Palmer ist das natür-lich sehr kurz. Aber die Länge eines Stückes Musik ist nur ein, undwohl nicht einmal das wichtigste Kriterium des Progressive Rocks.Dabei gab es in der aus der New Wave sich entwickelnden Rockmusikauch sehr lange Kompositionen. Etwa von Talk Talk.1988 veröffentlichte die Band, die im Kern aus Mark Hollis, Tim Friese-Green, dem Bassisten Paul Webb und dem Schlagzeuger Lee Harris be-

2Wohl ein elektrisches Klavierin-strument, beispielsweise HohnerCembalet

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3Den hier gemachten Zeitangabenliegt die CD: Talk Talk: Spirit of

Eden (Parlophone 50999621782723CDPCSDX 105, 2012) zugrunde.

stand das Album »Spirit of Eden«. Hollis und Friese-Green spielten di-verse Keyboards und waren für Musik und Text des weitaus größtenTeils der Songs verantwortlich; Hollis, begabt mit einer durchaus auf-fallenden Stimme, war zudem Sänger der Band. Talk Talk war in denJahren zuvor mit drei Alben hervorgetreten und hatte zwischen 1984und 1986 auch einige erfolgreiche Hit-Singles zu verzeichnen. Mit derLP »The Colour of Spring« (1986) begann die Band vorsichtig ihre Mu-sik zu verändern und legte 1988 mit »Spirit of Eden« ein Album vor,das aus der Masse der Veröffentlichungen der 1980er-Jahre hervorragt –gleichwohl den kommerziellen Erfolg seiner Vorgänger nicht zu wie-derholen vermochte. Die auf dem Album enthaltene Musik ist ein Bei-spiel dafür, das die kompositorischen und produktionstechnischenMittel des Progressive Rocks auch in der Musik der 1980er-Jahre ihreGültigkeit behalten hatten.Laut LP-Cover und CD-Booklet gehören sechs Songs zu dem Album:

The Rainbow (8:02)Eden (7:40)Desire (7:17)Inheritance (5:24)I Believe in You (6:16)Wealth (6:44)

Zwischen »The Rainbow«, »Eden« und »Desire« gibt es keine Pause,zwischen Desire und »Inheritance« eine lange Pause, zwischen »Inheri-tance«, »I Believe in You« und »Wealth« die üblichen kurzen Pausenzwischen verschiedenen Tracks. Da die Pausen zwischen den ersten dreiKompositionen fehlen, und es Ausgaben der CD gibt, bei denen nichtdie Dauern der einzelnen Stücke genannt, sondern alle zu einer Dauervon etwa 23 Minuten zusammengefasst werden, können »The Rain-bow«, »Eden« und »Desire« als eine Einheit angesehen werden.3 ObHollis und Friese-Green dies tatsächlich als Zyklus verstanden wissenwollten, gar als »Suite«, muss dennoch dahingestellt bleiben: Einerseitsfehlen diesbezügliche Äußerungen der Musiker dazu, andererseits fehltauch ein formaler Zusammenhang der drei Kompositionen untereinan-der, jedenfalls ist es kein Variationen-Zyklus wie etwa »Close to the Ed-ge« von Yes, eher schon eine Abfolge von Songs oderSong-Bruchstücken und instrumentalen Zwischenspielen wie »Tarkus«von Emerson, Lake & Palmer.Produziert wurde »Spirit of Eden« von Tim Friese-Green. Er nutzte da-zu die seinerzeit zur Verfügung stehende digitale Studiotechnik, nichtaber Instrumente mit Tonerzeugung auf digitaler Basis. Vielmehr sindes durchweg konventionelle, in Rock und Kunstmusik seit den 1960er-

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4Auch Guitarrón genannt, eine rela-tiv große akustische Bassgitarre mitsechs doppelt bespannten Saiten undeiner ausgeprägten Wölbung desRückens.

Trompete Trompete

Kontrabass Kontrabass

G Gis

Violinen

Jahren übliche Instrumente: Drum Set, elektrische Bassgitarre, MexicanBass,4 Kontrabass, Klavier, Hammond-Orgel, akustische Gitarre, diver-se Perkussionsinstrumente, Dobro, 12-saitige akustische Gitarre, Mund-harmonika, Violine, Trompete, Klarinette, Oboe, Englisch Horn,Fagott. Außerdem war der Choir of Chemsford Cathedral an den Auf-nahmen beteiligt. Und natürlich Mark Hollis als Solosänger. Unter denMusikern illustre Namen: Nigel Kennedy (Violine), Robbie McIntosh(Dobro, Gitarre), Mark Feltham (Mundharmonika), Danny Thompson(Kontrabass), Henry Lowther (Trompete). Außerdem wurde Hugh Da-vies mit seinen Shozygs genannten Do-It-Yourself-Instrumenten, herge-stellt beispielsweise aus alltäglichen Küchengeräten, hinzugezogen.Diese Geräuscherzeuger sind nicht zu unterschätzen: Sie sind verant-wortlich für eine Art »Meta-Ebene des Klangs«, etwa für die mitunterkaum wahrnehmbaren Nebengeräusche in »The Rainbow«, die demSong eine seltsam unruhige, geheimnisvolle Atmosphäre geben und inscharfem Kontrast zu den getragenene Tönen der anderen Instrumentestehen.»The Rainbow« beginnt mit einem einzelnen Ton, einem H, dergedämpften Trompete. Während das H verklingt, setzt leise ein aufVioline gespielter Em7-Akkord ein. Die Quinte H wird bei diesem Ak-kord allerdigns ausgelassen. Kaum zu hören ist eine Oktave tiefer einzwischen G und Gis wechselender Ton, der aus dem Em7-Akkord alsoeinen vagen E7-Akkord macht. Dominant in der Lautstärke sindGrundton, Terz und Sept. Schließlich wird ein H auf einem Kontrabassintoniert. Im Sonagramm stellt sich dieses Vorspiel wie folgt dar:

An diesem Vorspiel-vor-der-Einleitung zu »The Rainbow« kann nichtabgelesen werden, wie es aufgenommen wurde. Da Platten-Cover wieBooklet lediglich Nigel Kennedy als Geiger ausweisen, muss der Drei-

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klang (E7/Em7) aus einzelnen Tönen zusammengebaut worden sein.Im weiteren Verlauf dieses liegenden Akkordes sind auch unterschiedli-che Einsätze und Auf- und Abstriche der Violinstimmen zu hören.Auch können die metrischen Verhältnisse nicht eindeutig geklärt wer-den: Es könnte sich um einen 4/4-Takt handeln, doch bestätigen das dieDauern der Klänge nicht. Wird der Einsatz der Trompete bei 0 Sekun-den festgelegt, dauert der Trompetenton bis Sekunde 2,6. Noch wäh-rend dieser Ton verklingt, setzen bei 2,6 die Violinen ein, bei Sekunde5,55 der Kontrabass, dessen Ton schon bei Sekunde 7,8 endet. Bei Se-kunde 10,9 wechselt das G der Violinen zu A, bei Sekunde 29,9 wiederauf G. Die Trompete ist mit zwei Tönen ab 16,1 (bis 18,1) und von 18,1bis 21,0 wieder zu hören.Die ganze Abfolge des Vorspiels legt nahe, dass es aus Einzelaufnahmen– Samples, wenn man so will – mit Hilfe der Tonbandmaschine zusam-mengesetzt wurde, seinerzeit ein noch gängiges Verfahren, denn ob-wohl die Anfangsphase der digitalen Tonaufnahme zu dieser Zeit(1987/1988) bereits eingeleitet worden war, gab es noch keine Aufnah-me-Software, mit der derartige Arrangements leicht hätten am Bild-schirm konstruiert werden können.Der Stellenwert, der Sinn dieses Vorspiel ist nicht ganz klar, denn dieInstrumentenkombination aus Trompete, Violinen und Kontrabass – estreten auch noch zwei auf einer akustischen Gitarre gespielte Töne auf– bleibt singulär, Friese-Green als Produzent der LP kommt in derenweiteren Verlauf nicht mehr darauf zurück. Dennoch gibt es eine Ver-bindung zum eigentlichen Song »The Rainbow«, die elektrisch verstärk-te Mundharmonika, die zum ersten Mal bei Sekunde 49 zu hören ist.Während alle anderen Instrumente, selbst die Trompete, eher im pianoauftreten, ist die Lautstärke des von Mark Feltham gespielten Instru-mentes geradezu brachial. Feltham ist Bluesmusiker, er führt in »TheRainbow« eine Blues-Atmosphäre ein, die später auch vage bestätigtwird.Eindeutig ist das alles nicht. Denn die Besetzung mit Trompete, Violi-nen und Kontrabass wird mit dem Eintritt der akustischen Gitarre beiSekunde 39,3 sukzessive erweitert und verändert: Erst die Mundharmo-nika – die durchaus wie eine elektrische Gitarre klingt –, dann ein paarKlaviertöne, es bleiben die Violinen, kurz ist eine Klarinette zu hören,zunehmend aber wird dieses Vorspiel unterschwellig von den Klängender Instrumente von Hugh Davies bestimmt und schließlich übernom-men.Bei Minute 2:16 setzt eine elektrische Gitarre – vermutlich eine FenderStratocaster – relativ laut ein. Der Klang des Instrumentes ist zwar mitNachhall versehen, ansonsten werden aber keine Effekte verwendet, einKlangideal, dass insbesondere in amerikanischer Country Music favori-

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Kontrabass arco

Kontrabass pizzicato

E-Bass

siert wird. Zwischen Minute 2:30 und 2:44 tritt der Gitarre wieder dieMundharmonika zur Seite, bis bei Minute 2:44 der Song durch den Ein-satz von Schlagzeug und diversen Bassinstrumenten an Kontur gewinnt.Noch aber ist kein Gesang zu hören.Mit Hinzutreten des Drum Sets wird das indifferente Metrum aufgege-ben und durch einen klaren 4/4-Takt ersetzt. Lee Harris als Schlagzeu-ger der Band schlägt ausschließlich die vier Zählzeiten des Taktes, leiseund nicht deutlich erkennbar auf 1 und 3 die Bass Drum, laut und me-tronomisch exakt die Snare Drum, bei der allerdings der Snare-Teppichabgehoben wurde, auf 2 und 4; die Achtel werden mittels eines Shakersmarkiert. Das unterlegte Riff wird von drei Bassinstrumenten ausge-führt: Kontrabass pizzicato, elektrische Bassgitarre und gestrichenerKontrabass. Das Riff hat etwa die Gestalt:

Der Hörer kann sich durch die Pizzicato-Töne des Kontrabassesdurchaus an »Spoonful« von The Cream erinnert fühlen, doch hat »TheRainbow« nichts mit dem Blues als Form gemeinsam. Das Tempo istmit 84 Schlägen je Minute relativ langsam, so dass das sechmaligeDurchspielen des zweitaktigen Riffs einige Zeit in Anspruch nimmt.Die Takte 13 und 14 weichen dann von den vorangegangen ab, da sieder Überleitung auf den »Gesangsteil« dienen.Hollis setzt bei etwa 3:25 mit Gesang ein. Die Instrumentierung bleibtweitgehend erhalten, statt der Mundharmonika, die in diesem Tielüberhaupt nicht verwendet wird, tritt das Klavier hervor, außerdemwerden diverse Klänge quasi als »Sound-Splitter« einmalig engefügt.Der Text ist nicht in die gängige Strophe-Refrain-Struktur einzupassen,wenn auch die Aufteilung der Textmenge an diese Struktur erinnert. Essind zunächst drei Zeilen, die als Strophe angesehen werden könnten,der weitere drei Zeilen folgen, die als Refrain gelten könnten; der Textdieses »Refrains« tritt aber kein zweites Mal auf. Die ersten drei Zeilenlauten:.

(Oh Yeah), The World’s turned upside downJimmy Finn is out

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Well how can that be fair at all?

Dieser Text benötigt ebenfalls 12 Takte, also eben so viele wie die vonder elektrischen Gitarre geprägte Einleitung. Es folgen weitere drei Zei-len:

LenientThe song the lawyer sangOur nation is wrong.

Für die diese drei Zeilen wird die Instrumentierung radikal verändert:Das Schlagzeug setzt aus, wohl aber sind weiterhin Perkussionsinstru-mente (Shaker) zu hören, das Klangbild wird von wenigen langezoge-nen Tönen einer elektrischen Gitarre, vor allem aber vonHammond-Orgel und eventuell dem Harmonium bestimmt. Nachsechs Takten, in denen Hollis die zweiten drei Zeilen singt, präsentiertsich die Instrumentierung abermals stark verändert. Nunmehr ist dasKlavier mit einigen Akkorden allein zu hören.Die zweite Textgruppe von zweimal drei Zeilen ist in ein nahezu iden-tisches Arrangement gefasst. Sämtliche Teile wurden indes leicht ge-kürzt. Nach einem weiteren instrumentalen Zwischenspiel, dashauptsächlich mit der Hammond-Orgel bestritten wird, schließt sichein weiterer Textabschnitt an, der den jeweils zweiten dreizeiligen Text-abschnitten (Refrain) ähnelt. Im Ausklang dann singt Hollis lediglichnoch die Zeile »Sound the victim’s song«. Diese Zeile ist nicht in derder CD begebenen Textbeilage enthalten. Nach dieser Zeile leitet eininstrumentaler Ausklang zum nächsten Song, »Eden«, über.»The Rainbow« erweist sich im Überblick als eine Konstruktion, indem überkommene Formteile wie Strophe oder Chorus als Erinnerungverwendet werden. Als Ganzes ist die Konstruktion einerseits stark er-weitert – etwa durch das ausgedehnte Vorspiel und die relativ langen In-strumentalteile vor und nach den jeweiligen »Verses« und »Chorussen«–, andererseits aber auch formal frei in der Behandlung von »Vers« und»Chorus«. Allemal setzt die jeweils veränderte Instrumentierung dieFormteile voneinander ab und macht sie für den Hörer identifizierbar.Gleichartige Formteile erhalten dabei auch eine gleichartige Instrumen-tierung. Etwas vereinfacht also:

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Vorspiel (Trompete, Streicher)

Instrumentalteil elektrische Gitarre

»Strophe«

»Chorus«

Instrumentalteile Orgel, ev. Harmonium

Ausklang, Überleiung (instrumental)

»The Rainbow« erfüllt damit eine Reihe von Kriterien von ProgressiveRock: Überkommene Lied-Schemata werden aufgebrochen und die ein-zelnen Bruchstücke zur Konstruktion längerer Prozesse verwendet; eswerden verschiedene Instrumente benutzt, die in verschiedenen Zusam-menstellungen zur Verdeutlichung der Formteile und damit derGesamtform dienen; die gesamte Konstruktion beruht auf Reihung undist damit a priori unendlich; Begriffe wie »Verse«, »Chorus« und»Bridge« verlieren ihre eigentliche Bedeutung, obwohl sie quasi als »Re-miniszenz« noch existieren.»Spirit of Eden« wurde seinerzeit, 1988, nicht mit dem Begriff »Progre-sisve Rock« nicht belegt. Das Album gehört aber auf jeden Fall dazu,zumal »The Rainbow« – sei es nun ein einzelner Song, sei es Teil einesnoch größeren Konstrukts (mit »Eden« und »Desire«) – nicht die ein-zige Komposition dieses Albums ist, die in Richtung Progressive Rockzeigt.Talk Talk wurde unter anderem mit der 1985 gegründeten britischenBand Radiohead verglichen. In der Tat gibt es einige Paralellen in denverwendeten Stilmitteln, wie etwa die Art des Gesangs von Mark Holliseinerseits, Thom Yorke andererseits. Auffällig auch die Handhabungder Dynamik bei beiden Bands: Der Gegensatz von laut und leise wirdweniger durch ein mehr oder weniger langsames An- und Abschwellender Lautstärke hervorgerufen, als durch plötzliche, brachiale Änderun-gen, deren Ursache oft die elekrische Gitarre ist. Die unvermitteltenEinwürfe werden meist ebenso abrupt beendet, wie sie auftreten. BeiTalk Talk bietet etwa »Eden« ein Beispiel, bei Radiohead ist es »Parano-

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5Dann allerdings doch mit Leslie undHallgerät, hier und da auch über-

steuert.

Cis-Gruppe

H-Gruppe

FisKlanggemisch

id Android«. Weitere auf den Progressive Rock weisende Kennzeichenin der Musik von Talk Talk sind der überlegte, einzigartige Einsatz derHammond-Orgel, die hier nicht als das Heavy-Metal-Virtuoseninstru-ment wie etwa bei Emerson, Lake & Palmer verwendet wird, sondernoft für sich allein steht: Weder wird obligat ein Leslie benutzt noch derVerstärker des Instrumentes stets übersteuert. Die Orgelbegleitung5 indem Song »I Believe in You« dürfte ihresgleichen in der Rockmusiknicht haben: Zu hören sind die Hammond-Orgel, außerdem Schlag-zeug, Kontrabass und gelegentlich elektrische Gitarre, gelegentlichMundharmonika, beide in ihrer eigenen Charakteristik kaum erkenn-bar. Dazu kommen der Gesang von Mark Hollis, der sich in den hierbetrachteten Passagen auf die Worte »Spirit« und »How long« be-schränkt, letzteres allerdings mehr geraunt als klar ausgesprochen. DieOrgelstimme – vermutlich aus mehreren Aufnahmen unterschiedlicherRegistrierung kombiniert – wird ständig in sehr enger Lage geführt. Be-merkenswert isst aber, dass die Vokalisen der weiblichen Stimmen desChores hier mit dem Orgelklang zu einem kaum trennbaren Ganzenverschmolzen werden. Durch die nahezu über den gesamten Songgleichbleibende Schlagzeug-Begleitung – konstant werden auf dem Ride-Becken Achtel geschlagen, die Zählzeiten 2 und 4 von der Snare Drummarkiert, die Zählzeiten 1 und 3 von der Bass Drum umspielt – wirktder Song weitaus einfacher in seiner Klangegstaltung, als er ist. DieMöglichkeiten der Hammond-Orgel werden dabei ausgenutzt: Auf ei-nem Manual wurden der 16' -, 8' -, 4' - und 2' -Drawbar gezogen, lediglichaber der Ton Cis angeschlagen und gehalten. Dazu tritt anschließendein mit dem zweiten Manual erzeugtes Klanggemisch, dass sich mitun-ter zu Akkordhäufungen zusammenballt, hier im Sonagramm:

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6Der »Rolling Stone Album Guide«gab dem Album einen Stern, nachder Einschätzung der Herausgeberdes Buches: »Disastrous: Albums inthe range of one star or less are was-tes of vital resources. Only maso-chists or completists need apply«. ▪DeCurtis, Anthony/Henke, Ja-mes/George-Warren, Holly (Hg.):The Rolling Stone Album Guide;New York 31992; S. 691

Links das vierfache Cis des unteren Manuals der Orgel, etwa in derMitte wird dieses von H abgelöst, gleichzeitig treten oben, auf dem obe-ren Manual der Orgel gespielt, im Oktavabstand zwei Töne Fis auf.Dann verdichtet sich das Klanggemisch, bis es – zu sehen auf der rech-ten Seite –, gebildet aus den Tönen H, Dis, Fis, Ais, jeweils mehrfach inden verschiedenen Oktavlagen, zu hören ist. Es kann dabei nicht klargetrennt werden, welche Töne von der Orgel kommen, welche dieChorsängerinnen singen.Der Hörer von »Spirit of Eden« kann sich durch die sechs Kompositio-nen des Albums an diverse Musik erinnert fühlen, an Country, Blues,Gospel (»Wealth«), Jazz (»Inheritance«) und schließlich vom Schlussteilvon »Inheritance« an den kammermusikalischen Jazzrock der Canter-bury-Strömung. Seinerzeit stieß das Album auf Unverständnis, TalkTalk wurde verglichen mit Duran Duran und als Synthie-Pop-Band ge-führt, von der man anderes erwartete.6

Gleiches dürfte etwa für die britische Band Japan gelten. Traten die Mu-siker dieser Band zunächst wie Glam-Rocker auf, so wurde die von ih-nen und einigen anderen Bands vertretene Rockmusik später als die der»New Romantics« bezeichnet. Dabei zog dieser Begriff seine Berechti-gung weniger aus der Musik – bei der es sich im Grunde um einen nichtsonderlich einfallsreichen Hardrock handelte – als aus der Kleidung unddem androgynen Äußeren der Musiker, die sich damit allemal an DavidBowie und vielleicht auch Roxy Music orientierten. In Bryan Ferry sahder Sänger der Band, David Sylvian, ein Vorbild, löste sich aber imLaufe weniger Jahre davon und schlug mit der Band – die sich nach dreiAlben von dem deutschen Label Hansa getrennt und zu Virgin Recordsgewechselt war – eine völlig andere Richtung ein. Gehörten zu Japanneben Sylvian ursprünglich der Gitarrist Rob Dean, der Bassist MickKarn, der Keyboard-Spieler Richard Barbieri und der Schlagzeuger Ste-ve Jansen – Bruder von Sylvian –, so schrumpfte die Band, als Deannach den Aufnahmen zu »Gentleman Take Polaroids« (1980) Japan ver-ließ, zum Quartett. Tatsächlich hatte sich der Klang der Gruppe mitdem Album »Quiet Life« (1979) stark verändert, nicht zuletzt durch diekurze Zusammenarbeit mit Giorgio Moroder. Erst das letzte Album Ja-pans, »Tin Drum«, indes zeigte die Band auf ihrem künstlerischen Hö-hepunkt.Keiner der vier Musiker war ein Virtuose seines Instrumentes und den-noch ist das, was Barbieri, Karn und Jansen instrumental mit diesemAlbum vorführten, seinerzeit ungewöhnlich gewesen. Denn die vierMusiker machten aus der Not eine Tugend, setzten nicht auf Virtuositätim sportlichen Sinne von »höher, weiter, schneller«, sondern widmetensich dem Gesamtklang ihrer Musik. In dem elektronische Klanger-zeuger allemal eine zentrale Rolle spielten. Japan war zwar keine Pro-

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7Mick Karn verstarb 2011.

8Japan:Tin Drum (1981)

gressive-Rock-Band, und der Einfluss des Progressive Rocks der erstenHälfte der 1970er-Jahre dürfte verschwindend gering, wenn überhauptvorhanden, gewesen sein, doch sind alle vier Musiker feste Größen desProgressive Rocks der Jahre nach 1990 geworden.7 Mick Karn etwa gingmit Bill Bruford, dem Gitarristen David Torn und dem TrompeterMark Isham auf Tournee, gemeinsam präsentierte man eine Musik zwi-schen Jazzrock und Progressive Rock, Jansen, Barbieri und Karn nah-men unter dem Namen JBK einige Alben im Trio auf, Sylvian legte inloser Folge Alben vor, bei denen unter anderem Holger Czukay, Ryui-chi Sakamoto, Bill Nelson (Be-Bop Deluxe) und Robert Fripp mitge-wirkt hatten. Richard Barbieri schloss sich 1993 Steven Wilsons BandPorcupine Tree an.Schon bei Japan hatte Barbieri Synthesizer weniger als Tasteninstru-mente, die besondere Klänge erzeugen können oder gar als Ersatz fürein Orchester betrachtet, sondern die einzelnen Songs jeweils »atmo-sphärisch« eingefärbt. Seine Parts wirken stets wie Kommentare desrestlichen Geschehens, manche Klänge werden für Bruchteile von Se-kunden quasi »eingeblendet«, etwa in der Manier, in der sie in Science-Fiction-Filmen wie »Alien« (1979; Regie: Ridley Scott; Musik: JerryGoldsmith) oder »Blade Runner« (1982; Regie: Ridley Scott; Musik:Vangelis) auftreten, um die Aktivitäten von Computern und diversenanderen Gerätschaften akustisch zu verdeutlichen. So fügen sich die vonBarbieri stets auch selbst programmierten Klänge – er benutzt vorzugs-weise Synthesizer der japanischen Firma Roland – auch nicht unbedingtnahtlos in die Klangwelt der jeweiligen Songs ein, sondern verfügen oftüber eine eigene Dynamik: leise und im Vordergrund etwa, wenn dereigentliche Song eher laut und plakativ ist, plötzlich in den Vorder-grund tretend, wenn die Dramaturgie des Songs es erfordert und mög-lich macht. Beispiele bieten etwa bei Japan »Ghosts«, »Canton« und»Sons of Pioneers«.8 Einige der Klänge, die Barbieri für »Tin Drum«programmierte, blieben über Jahrzehnte aktuell und wurden von Ro-land beispielsweise für deren 2006 auf den Markt gebrachten Synthesi-zer SH-201 als Library angeboten.Wenn auch Japan keine originäre Progressive-Rock-Band war, so findensich dennoch, neben Barbieris singulären Klangwelten, weitere Stilmit-tel des Progressive Rock, etwa plötzlich auftretender Kontrapunkt, inder Musik der Band. »Canton«, ein instrumentales Stück von knappfünfeinhalb Minuten Dauer, basiert im Wesentlichen auf einer ArtThema, das aufgrund seiner anhemitonischen Pentatonik sofort Asso-ziationen an die Musik Chinas hervorruft. Das auftaktige Thema um-fasst insgesamt vier Takte:

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Der Hörer mag sich an den »Orientalismus« von Giacomo Puccini oderauch an Werke Claude Debussys erinnert fühlen, zumal Barbieri auchdie Instrumente Asiens, insbesondere Metallophone, Lithophone, Xy-lophone, Erh-Hu9 und Bambusflöte mit Synthesizern nachahmt. DasThema wird zunächst vorgestellt, dann sieben Mal wiederholt. Mit je-der Wiederholung wird die Instrumentation zunächst erweitert, dannauch verändert. Nachdem das Thema – von einer eigentlichen Einlei-tung kann nicht gesprochen werden, wenn auch die ersten acht Takte sowirken – insgesamt acht Mal durchgespielt wurde, fügt sich einZwischenspiel ein, danach folgt erneut die Themengruppe, dieserwiederum ein weiteres Zwischenspiel, dem ein zweites, dem ersten ver-wandtes Thema zugrunde liegt:

9Eine Geige mit einem kleinen run-den oder sechseckigen Resonanzkö-reper und zwei Saiten. Hier kannnatürlich auch eine europäische Vio-line verwendet worden sein.

Da die Themen in Gruppen von vier Takten organisiert sind und dasZwischenspiel ebenfalls aus 4-taktigen Perioden (2+ 2 Takte) zusam-mengebaut ist, können die sich daraus ergebenden Formteile beliebigmiteinander kombiniert werden. Möglich wäre es noch, die ersten bei-den Durchläufe des Themas (8 Takte, 4+ 4 Takte) als Einleitung zu se-hen. Die ganze Form ist also relativ einfach gehalten:

32 Takte Themengruppe 116 Takte Zwischenspiel 120 Takte Themengruppe 216 Takte Gegenthemagruppe4 Takte Bridge28 Takte Themengruppe 34 Takte Ausklang

Schemenhaft schimmert noch ein nicht ganz symmetrisches Liedsche-ma durch, etwa: Einleitung, Verse 1, Chorus 1, Verse 2, Chorus 2,Bridge, Verse 3, in der Tat aber profitiert dieses im Falle von »Canton«eben den in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre durch die Musik der Bea-tles und der Beach Boys ermöglichten Erweiterungen und Veränderun-gen. Aus dem Zwischenspiel 1 wird im Übrigen ein rhythmischesModell übernommen, das als Riff dem Thema aus der Themengruppe1 unterliegt. Es ist möglich – analog zu Kompositionen von etwa TheCure oder Orchestral Manœuvres In The Dark das Thema als Riff auf-

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zufassen, dem weitere Riffs – erleichtert durch die Pentatonik – wie einKontrapunkt unterlegt werden. Das oben angegebene Notenbild ist le-diglich als Skizze eines »Skeletts« anzusehen, denn das Thema wirdgrundsätzlich durch die elektronischen Keyboards oktaviert – mituntermehrfach –, wie auch diverse Obertöne der metallischen Klänge diverseParallelen erzeugen. Bei aller Einfachheit der Konstruktion von»Canton« wäre für eine Notierung aller Stimmen eine Partitur notwen-dig. Denn Barbieri und Sylvian ahmen in »Canton« ein Orchester derchinesischen Oper nach.Wenn auch »Canton« auf den ersten Blick nichts mit Progressive Rockgemein hat, so wäre beispielsweise Anfang der 1960er-Jahre ein derarti-ges Stück Musik nicht als Rockmusik zu verkaufen gewesen. SämtlicheGestaltungselemente von »Canton« stammen aus der Rock-Historiezwischen 1965 und 1975: Exotisches Instrumentarium, aufgebrocheneForm, angedeueter Konrapunkt, zeitliche Ausdehnung.Ob Japan sich als Band des Progressive Rocks verstand, spielt dabei kei-en Rolle – höchstwahrscheich nicht. Die Möglichkeiten, die die Musikder Beatles (exotisches Instrumentarium), Brian Wilsons (Erweiterungder Form), von Yes (Übernahme von Motiven und Themen von Form-teil zu Formteil) und Emerson, Lake & Palmer (Musikinstrumente mitelektronischer Tonerzeugung zur Generierung eines orchestralenKlangs) aber sind von essentielle Bedeutung für die Musik von Japan –wie auch die später folgenden Produktionen der Bandmitglieder immerwieder bewiesen.Mit dem Begriff »Progressive Rock« mochte auch die britische BandRadiohead nicht in Verbindung gebracht werden. Rick Wakeman hattedie unwillkommene Wahrheit ausgesprochen und sogleich die ableh-nende Reaktion von Thom Yorke ob der unwillkommenen Etiket-tierung hervorgerufen – im Grunde nur ein weiteres Beispiel dermangelnden Eindeutigkeit des Begriffs.Das bekannteste, vielleicht sogar erfolgeichste Album Radioheads ist»Ok Computer« von 1997. Teil des Albums ist der Song »Karma Poli-ce«, der im selben Jahr als zweite Single aus dem Album ausgekoppeltwurde. Die Single erreichte in Großbritannien den achten Platz derHitparade und gilt damit als kommerziell erfolgreich.Der Erfolg des Songs dürfte auf seine Nähe zur Musik der Beatles zu-rückzuführen sein: »Karma Police« erinnert den Hörer etwa an das sogenannte »Weiße Album« (1968). Ursache ist in erster Linie die Instru-mentierung: Klavier, akustische Gitarre, Schlagzeug, elektrische Bassgi-tarre, Sologesang, Background-Gesang; im Verlauf des Songs werdennoch einige elektroakustische Effekte in eine vom eigentlichen Song un-abhängigen Ebene gelegt, hier und da gibt es auch zum Sologesang Yor-kes Background-Gesang von den anderen Mitgliedern der Band. Bass

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und Drum Set werden durchaus in der Manier von Paul McCartneyund Ringo Starr gespielt. Insgesamt präsentiert sich »Karma Police« als»Musik über Musik«, ist aber natürlich keine Cover Version.Auffallend ist die Form des Songs: Die insgesamt 77 Takte werden aufzwei große Partien verteilt. Der erste Teil ist von einer achttaktigenHarmoniefolge bestimmt, die sich in dem Modus A-Dorisch bewegt, diezweite in einer einfacheren Harmoniefolge in h-Moll; es handelt sich al-so um denselben Tonvorrat. Der Song endet in einem h-Moll-Akkord,dem diverse Effekte überlagert werden.Im Grunde handelt es sich um zwei eng verwandte Songs, die jeder fürsich lediglich aus Verses bestehen. Es gibt keinen Chorus und auch kei-ne Bridge. Die ersten acht Takte erwecken, da instrumental, zwar denEindruck einer Introduktion, sind tatsächlich aber schon die erste Stro-phe, da sie das komplette im ersten Teil verwendete harmonischeGerüst enthalten. Es folgt die zweite Strophe, die erste mit Gesang (A).Jede Strophe des ersten Teils wird mit den Worten »Karma Police .. .«eingeleitet. Die Harmoniefolge dieser Strophe weicht geringfügig vondem der ersten ab, umfasst aber ebenfalls acht Takte (A'). die folgendenbeiden Strophen umfassen zwar jeweils 16 Takte. Die ersten acht Taktedieser 16 Takte gleichen den ersten acht Takten der ersten Strophe mitGesang, also A' , die folgenden acht Takte aber basieren auf einer ande-ren Harmoniefolge, wenn auch die letzten zwei Takte wieder den letz-ten zwei Takten von A' ähneln (AB). Die 16 Takte werden für die dritteStrophe wiederholt. Damit ist der erste Teil von »Karma Police« been-det.Der zweite Teil besteht aus zwei Strophen (C), die auf demselben Textbasieren; eigentlich handelt sich um nur eine Strophe, die wiederholtwird. Die Harmonik dieses zweiten Teils ist wesentlich einfacher gebautals die des ersten: Die beiden Strophen umfassen jeweils 12 Takte, geteiltin drei Abschnitte von jeweils vier Takten. Dabei weicht die Harmonie-folge der ersten vier Takte jeder Strophe geringfügig von der der zweite-n und dritten ab. Vier Takte, basierend auf diesen zweiten und drittenGruppen werden für die Ausleitung wiederholt, der letzte zusätzlicheTakt endet auf einem h-Moll-Akkord. In einer grafischen Darstellungzeigt sich der ökonomische Aufbau des gesamten Songs: Bemerkenswertist an »Karma Police« – immerhin ein Hit-Song – gleich Mehreres :

▪ Es sind im Grunde nur sechs Zeilen Text (»Karma Police …«, »This iswhat you get …«, »For a minute there …«), durch Wiederholung wirdder Text aber verlängert.▪ Die Form folgt dem Text.▪ Es gibt kein Intro im konventionellen Sinn.▪ Es gibt weder Verse noch Chorus im konventionellen Sinn.

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A Einleitung (1. Strophe instrumental)

A' 2. Strophe (1. Strophe mit Gesang)

AB (3. und 4. Strophe)

C (1. und 2. Strophe 2. Teil

C' (Ausleitung)

▪ Dem ersten Teil folgt ohne jeden Übergang der zweite Teil. Lediglichdie enge Verwandtschaft der verwendeten Skalen und die Vermeidungmetrischer oder rhythmischer Extravaganzen lässt den Übergangorganisch, geradezu »unmerklich« erscheinen.▪ Die Reihung der Formteile wird aufgrund des Textes beendet, nichtaufgrund eines formalen Zwanges, wie ihn ein konventionellesLiedschema bedingen könnte. Umgekehrt könnte die Form in gewisserWeise endlos in gleicher Weise erweitert werden. Grundsätzlich ist dieForm von »Karma Police« eine offene, im schematischen Überblick et-wa wie folgt:

Die Anlehnung an den »Sound« verschiedener Kompositionen der Bea-tles lässt dem Hörer »Karma Police« sehr vertraut erscheinen. Vage er-innert die zweiteilige Form des Songs ja durchaus an »Strawberry FieldsForever« oder an »A Day in the Life«. Tatsächlich sind derartige offeneFormen erst seit etwa Mitte der 1960er-Jahre in der Rockmusik möglichund üblich, wurden im Progressive Rock der ersten Phase Anfang der1970er-Jahre ausgiebig erprobt und stehen seitdem der Rock- und Pop-musik insgesamt zur Verfügung. Rick Wakeman hat also Recht, wenner Radiohead als eine Band des Progressive Rocks bezeichnet, denn diefür »Karma Police« angewendete Kompositionstechnik ist im Prinzipnicht anders als die für »Close to the Edge«. Und ebenso hat ThomYorke Recht, wenn er unter Progressive Rock lediglich die ausgedehnteKompositionszyklen von Yes, Genesis und Emerson, Lake & Palmerversteht. Die hier wie da angewendete Kompositionstechnik führt abernicht zwangsläufig zu Kompositionen großer Dauer.

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Diesem Verfahren ist in an immer noch mehr oder weniger an Texte ge-bundener Musik kaum etwas hinzuzufügen. Das zeigen auch jüngsteBeispiele von Musik, die dem Progressive Rock hinzugerechnet wird, sieer nun New Progressive Rock, New Art Rock, oder Post Rock oder wieauch immer genannt. Ein Beispiel der britischen Band Porcupine Treemag das verdeutlichen.Unter Fans der Band ist deren 2005 veröffentlichte CD »Deadwing« we-nigstes umstritten. Nach Alben wie »Lightbulb Sun« (2000) und »InAbsentia« (2002) bot »Deadwing« in der Tat eine Art Kontrastpro-gramm. »Lightbulb Sun« galt als das »Pop-Album« der Gruppe, »In Ab-sentia« war eine Ausdruck des Wechsel: Der Schlagzeuger ChrisMaitland hatte die Band verlassen und war durch Gavin Harrison er-setzt worden, die Band selbst von einem kleinen Label zu Warner, einerder großen Firmen, gewechselt. An »In Absentia« ließ sich – zumal imNachhinein – auch schon eine Veränderung der Musik der Band able-sen. Die Elemente aus dem Heavy Metal, die bei »In Absentia« wie zu-fällig auftraten, bestimmten bei »Deadwing« das gesamte Klangbild.Das trifft zumal auf das Titelstück »Deadwing« zu. Das gesamte Albumist ein Konzeptalbum – es geht um einen Toningenieur, der sein Gehörverliert und dies erst allmählich zurückgewinnt –, in dem die Komposi-tion »Deadwing« als eröffnendes Stück eine herausragende Rolle spielt,kenntlich allein schon an der Länge von fast zehn Minuten. An der Ein-spielung des Songs waren neben den Mitgliedern der Band auch der Gi-tarrist Adrian Belew mit zwei Soli sowie der Sänger und Gitarrist derschwedischen Band Opeth, Michael Åkerfeld beteiligt. Die Rolle Åker-felds ist dabei im Booklet der CD nicht weiter spezifiziert, sondern le-diglich mit »harmony vocals« angegeben; es ist möglich, dass er für zweimelodramatische Einschübe an das Mikrophon trat.Bei »Deadwing« handelt es sich trotz der Länge nicht um einen Song-Zyklus, auch nicht um das, was häufig als Rock-Suite bezeichnet wird,sondern um eine offene Form, die auf der herkömmlichen Song-Formbasiert. Bereits mit der Einleitung, die der Keyboard-Spieler RichardBarbieri – oder auch Steven Wilson selbst – dem Stück voranstellte,wird auf Kompositionstechniken zurückgegriffen, die auf vor allem imBluesrock und im Heavy Metal üblich sind. Es wird dementsprechendausgiebig Gebrauch von offenen Quinten gemacht, so dass die Tonartder Komposition D ist, nicht D-Dur und auch nicht d-Moll. Für dieEinleitung werden also lediglich Töne D und A verschiedener Oktavenverwendet, dies aber durch Häufung verschiedener Ostinati und durchstarken Einsatz von die Phasenlage verändernden Effektgeräten starkverschleiert. Im Sonagramm zeigt sich dadurch auch keine signifikantePeriodizität der Klangereignisse:

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Tatsächlich aber ist diese Einleitung aus mehreren ostinaten Figurenwie

oder

zusammengesetzt. Bis auf eine kleine Unterbrechung ist dieses ostinateTon- und Klanggemisch der gesamten Komposition als eine Art Hinter-grund beigegeben, ist im Verlauf des Stückes sogar noch einmal allein zuhören.Auf die 24 Takte dieser Einleitung folgt abrupt das erste Formteil, dasals Strophe 0 bezeichnet werden kann. Es gibt hier keinen Gesang, dochentspricht die Harmonik exakt der der späteren vokal ausgestaltetenStrophen. Es handelt sich um die Medianten zu D-Dur, im ersten Takttreten die Harmonien fis-Moll und F-Dur auf, in den jeweils folgendendrei Takte ist es ausschließlich F-Dur. Beide Akkorde werden aber durchTerzenschichtung stark erweitert zu Fm11 und Fmaj7(#11). Akkordedieser Art treten eher im Jazz auf und stellen in der Rockmusik sicher-lich eine Ausnahme dar. Wilson stellt in diesem Teil das hauptsächlich,den Song komplett bestimmende Riff vor.Die Wahl der Tonart ist kein Zufall. Wilson stimmte seine Gitarretiefer, das Drop-D-Tuning erlaubt ihm die Nutzung des tiefen D – die E-Saite wird bei dieser Stimmung auf D gestimmt –, der stark verzerrteGitarrenklang wurde durch vermutlich mehrfaches Kopieren und Über-einanderlegen stark angereichert und schließlich die Lautheit durch

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Kompression stark erhöht – ein seit den 1990er-Jahren übliches Produk-tionsverfahren, dass die Dynamik des Signals auf eine einheitliche Ebe-ne dicht an der Vollaussteuerung hebt.

Der Überraschungseffekt dieser Strophe 0 nach dem über 24 Takte eherleise vor sich hin mäandernden Synthesizer-Klang ist natürlich erheb-lich. Die Strophe ist völlig symmetrisch in vier Perioden zu je vier Tak-te aufgeteilt, die Perioden sind untereinander völlig identisch. Beteiligtsind alle Instrumente der Band: elektrische Gitarre, Synthesizer, elektri-scher Bass, Schlagzeug. Weder metrisch noch rhythmisch gibt es irgend-welche Auffälligkeiten oder Extravaganzen, es handelt sich um einenmit etwas über 140 beats per minute recht schnellen 4/4-Takt.Auf diesen »Akkordvorhang« folgt ein Vorgriff auf den Chorus. DerChorus – der nicht mit einem Refrain zu verwechseln ist – basiert har-monisch komplett auf der Tonika, einem offenen D-Akkord. Wilsonfüllt diesen Chorus mit einem eintaktigen Riff, das auch in der Folge ei-ne Rolle spielt:

Nach dieser instrumental bestimmten Vorstellung der zentralen Form-teile des Songs beginnt »Deadwing« erst eigentlich mit den Strophen 1und 2, jeweils mit Sologesang durch Wilson selbst. An die zweite Stro-phe schließt sich ein Formteil an, das mit den Begriffen Refrain oderBridge falsch beschrieben ist: Es sind 16 Takte – vier Gruppen zu je vierTakten –, in denen die mehr geflüsterte als gesprochene Stimme einesMannes – Åkerfeld? – zu hören ist. Der Sprechrhythmus ist in jedemTakt völlig gleich, als Akkord liegt ein offener D-Akkord zugrunde, sodass sich so etwas wie ein Stillstand ergeben könnte, wenn nicht Edwinund Harrison diesem »Chorus« durch ihr auf ein Riff und einen sim-plen Rockrhythmus reduziertes Spiel ein Vorwärtsdrängen bewirken

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Über diesem Riff gibt es dann auch mehrstimmigen Gesang. Zwar um-fasst die Zeitdauer dieser Bridge etwa 17 Takte, doch liegt es näher, 16Takte anzunehmen, da der letzte Takt durch Ritardandi von Gitarreund Schlagzeug den Zeitraum von zwei Takten einnimmt.Diese Abschnitte sind zunächst aber nur Episode, denn noch einmalwerden schon bekannte Song-Teile eingebaut. Dies sind der gesprocheneRefrain – wenn auch jetzt um die Hälfte, also auf acht Takte verkürzt –,darauf folgend eine weitere Strophe (5). Die Form scheint sich dabeiweiter aufzulösen, Strophe und Refrain bilden aber weiterhin dieGrundlage: Der sich an Strophe 5 anschließende, 16 Takte umfassendeInstrumentalteil basiert wieder auf der offenen Quinte D-A. Nach die-sem Teil ist für 20 Takte das Synthesizer-Klangriff der Einleitung zu hö-

würden; das Klang-Riff Barbieris wird dabei ebenfalls fortgesetzt. Aufdiesen Chorus folgt die dritte Strophe – identisch zu den übrigen. Biszu diesem Punkt ist »Deadwing« noch nicht sonderlich ungewöhnlich:Es gibt eine Einleitung (Intro), es gibt ein Formteil Strophe (Verse) undein Formteil Refrain (Chorus). An Strophe drei aber schließt sich ein 16Takte umfassender instrumentaler Abschnitt ein, der vage – durch offe-nen D- und offenen F-Akkord – Elemente aus Strophe wie Refrain auf-nimmt, aber trotzdem eine gewisse Eigenständigkeit aufweist. Obdieser Teil nun Zwischenspiel oder auch Bridge bezeichnet wird, ist da-bei unerheblich – es handelt sich um ein neues, ein viertes Formteil,deutet aber auch schon einen Wechsel hinsichtlich üblicher Song-Kon-struktionen an: Auf dieses Zwischenspiel folgt – auf der harmonischenGrundlage der Strophe – das erste, von Belew gespielte Gitarrensolo.Wie die Strophe hat auch dieses Solo eine Länge von 16 Takten, reichtaber in einen fünften Formteil hinein. Dieser Formteil – hier könntetatsächlich von einer Bridge gesprochen werden, wenn auch seine Längemit 16 Takten weit mehr als acht Takte umfasst – bildet mit dem voran-gegangene Gitarren-Solo eine Einheit, denn beide Teile werden Half-ti-me gespielt, erscheinen dem Hörer also als halb so schnell wie dievorangegangenen Teile. Das nach wie vor im Hintergrund laufende Riffindes unterliegt nicht dem Half-time-Feeling, es läuft ungestört weiter.Mit dem Wechsel zur Bridge erfolgt auch ein Wechsel der Tonart, vomD des Solos zu B-Dur, die auch durch d-Moll – Mollparallele der Domi-nante – bestätigt wird; hier findet also eine echte Modulation statt.Der Gesamtklang der Bridge weicht vom Vorangegangenen erheblichab: Gitarre und Bass stellen mit einem neuen Riff die Grundlage bereit:

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ren, doch ist der Song damit nicht zu Ende. Der 20. Takt hat dabei eineDoppelfunktion: Einerseits schließt er diese Phase ab, ist gleichzeitigaber der erste Takt, der Auftakt zu einem weiteren Instrumentalteil,der 32 Takte lang ist, die ihrerseits in zwei Gruppen zu je 16 Taktenaufgeteilt sind. Die ersten 16 Takte werden von tremolierenden Gitar-renklängen bestimmt, ab Takt 17 kommt die Bassgitarre dazu. Weiter-hin auf der Grundlage von D5 folgt nunmehr ein deutlicher Wandel:Der bis hier durchgehaltene 4/4-Takt wird aufgegeben und von eineminsgesamt 20 Takte umfassenden Abschnitt metrischer Wechsel abge-löst:

Takt 1 3/4Takte 2-10 7/4Takte 11-22 Gitarrensolo 7/4Takt 23 Gitarrensolo 6/4Takte 24/25 Gitarrensolo 4/4

Formal bilden die Takte 2 bis 22 eine gewisse Einheit, da in diesem Teilein Gitarren-/Bass-Riff mit der rhythmischen Gestalt

die Grundlage gibt. Der 3/4-Takt zu Beginn dieser Phase wie auch der6/4-Takt am Ende dieses Abschnitts scheint dazu zu dienen, den für dasGitarrensolo ab Takt 11 eingesetzten 7/4-Takte vorzubereiten; das SoloBelews endet dann auch über den 6/4-Takt wieder im 4/4-Takt. Einweiteres Zwischenspiel, wiederum auf einem offenen D-Klang basie-rend, leitet über zur letzten Strophe (6), auf die ein letztes Zwischen-spiel – dieses Mal wieder offener D- und F-Klang – folgt. Für denSchluss der Komposition benutzte Wilson wieder die Harmoniefolgeder Strophe (F#m11, Fmaj7(#11)) – nach wie vor in D, spielt er in Ar-peggien die Töne einer F-Dur-Skala, wobei der Ton B durch die hochal-terierte Undezime vermieden wird.Im Überblick zeigt sich, dass es nicht weniger als 21 Formteile sind, ausdenen »Deadwing« konstruiert ist. Diese aber basieren auf nur zweiGrundformen: Der auf dem offenen D-Klang gründenden Einleitungund der Strophe, die im Wesentlichen auf einem F-Dur-Akkord auf-baut. Mit Ausnahme der mittleren Bridge – erkennbar am mehrstimmi-gen Gesang – sind alle anderen Formteile des Songs, wenn auch mitAbwandlungen, aus diesen beiden Teilen erzeugt. Den Mittelpunkt bil-det auch formal die Bridge in F-Dur.Bis zu dieser F-Dur-Bridge stellt sich der Song folgendermaßen dar:

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Einleitung

Strophe (Verse)

Zwischenspiel 1

Refrain (Chorus)

Zwischenspiel 2 (Ähnlich ZWS 1)

Gitarrensolo 1

Chorus

Einleitung (kurz)

Gitarrensolo 2

Schluss

Nach der Bridge werden diese Formteile – teilweise mehr oder wenigerabgewandelt – freier kombiniert:

Die Strophen sind zwar völlig gleich aufgebaut, alle anderen Teile dage-gen werden vor allem hinsichtlich der Länge unterschiedlich gestaltet.Manch einem Hörer von Progressive Rock waren das Album »Dead-wing« überhaupt und der Song »Deadwing« insbesondere kein Progres-

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sive Rock mehr, sondern wenigstens Hardrock, wenn nicht gleich Hea-vy Metal. In der Tat sind die schon genannten Elemente des Heavy Me-tals nicht zu übersehen. Die Gesamtform aber weicht stark vonüblichem Heavy Metal oder auch Nu-Metal ab. Wilson spielt mit denherkömmlichen Song-Teilen Verse, Chorus und Bridge hier in gleicherWeise wie seinerzeit es Brian Wilson für »Good Vibrations« tat: In derersten Hälfte des Songs wird das Konventionelle nicht angetastet, in derzweiten dagegen mit den Konventionen gebrochen und die herkömmli-che Song-Struktur aufgelöst. Dabei handelt es sich nicht um ein Stück,das man als »Rock-Suite« bezeichnen könnte: Alle Formteile beruhenauf sehr wenigen Ausgangsteilen, im Grunde also auf einer einzigenSong-Idee. Die Atmosphäre des Songs – das etwas Düstere, Bedrücken-de – findet ihren Grund einerseits in der Wahl der Tonart, die zwischenD-Dur und d-Moll changiert und verstärkt wird durch die Bridge in F-Dur – diese wirkt wie eine vorübergehende Aufklarung, nach der mitder Rückkehr zu D die Atmosphäre des Songs sich umso nieder-drückender zeigt.Ebenso wichtig in dieser Hinsicht, wenn nicht von größerer Bedeutung,ist die Rolle der von Richard Barbieri eingestreuten Klänge, allemal mitSynthesizern erzeugt. Bereits die mechanische Gleichförmigkeit derEinleitung – für die nur zwei Töne benutzt werden –, wirkt über denganzen Song hinweg als eine Art unerbittlicher Unruhestifter. Alle an-deren Klänge treten für mehr oder weniger kurze Zeit auf und ver-schwinden wieder, ohne dass sie wieder aufgegriffen werden und sichdamit an der Verdeutlichung der Konstruktion beteiligen könnten. Rät-selhaft muss bleiben, was die Einblendung von Originaltönen aus ei-nem Bahnhof betrifft – Stimmen sind zu hören, ein Zug fährt ein,Bremsen quietschen, eine Ansage. Auch am Ende des Songs wird derHörer diesen Geräuschen überlassen. Rätselhaft auch der Anfang über-haupt: Zu Beginn ist ein einzelnes D zu hören, das zwar im Zeitmaßder Kompostion ist, aber nicht als Auftakt taugt, sondern eher als Si-gnalton – wie, um einem Schlagzeuger zu signalisieren, dass der vom Se-quenzer gestartete Song nun beginnt.

Diskografie The Stranglers: IV (1977) ▪ Queen: A Night at the Opera (1975) ▪Kate Bush: The Kick Inside (1978) ▪ Talk Talk: Spirit of Eden (1988) ▪ Japan:Tin Drum (1981) ▪ Radiohead: OK Computer (1997) ▪ Porcupine Tree: Dead-wing (2005) | Literatur Kate Bush: The Best of Kate Bush; London 1981 (Song-book, Hg.: Cecil Bolton) ▪ Kate Bush: Hounds of Love; London 1985(Songbook, Hg.: Cecil Bolton) ▪ Pitt, Arthur A.: A Tourist’s Guide to Japan;New York/London 1982 ▪ Porcupine Tree: Deadwing; Van Nuys 2005; Song-book. Transcribed by Danny Bergelmann ▪ Letts, Marianne Tatom: Radiohead

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and the Resistant Concept Album: How to Dissappear Completeley; Blom-mington, Indiana 2010 ▪ Halbscheffel, Bernward: Lexikon Progressive Rock;Leipzig 2010 | Weblink http://www.porcupinetree.com/deadwing/index.html